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6.4. Haushaltsdefizite in der Praxis


In diesem Zusammenhang ist das Phänomen der „automatischen Stabilisatoren“ zu nennen. In Krisenzeiten schwächen sich die Staatseinnahmen ab, und die Sozialausgaben – Arbeitslosenunterstützungen und Sozialhilfe – steigen, beides ohne unmittelbares Zutun des Staates. Beides erhöht das Defizit bzw. mindert einen Haushaltsüberschuss gleichsam automatisch. Grob geschätzt: Sinkt/steigt das BIP um ein Prozent, dann steigt/sinkt das Haushaltsdefizit aus Sozialausgaben automatisch in Deutschland und in der EU um ein halbes Prozent, in den USA um ein Drittelprozent. Diese Stabilisatoren dämpfen, verstärkt durch Multiplikatoren, die konjunkturellen Schwankungen. Es gibt Ökonomen, die das Funktionieren dieser passiven Stabilisatoren in Krisenzeiten für ausreichend halten.


Ähnlich funktioniert die antizyklische Haushaltspolitik. Ihr Ziel ist es, im Abschwung ein Defizit hinzunehmen und im Aufschwung Überschüsse zu bilden. Begünstigt wird dieses Konzept dadurch, dass sowohl Steuereinnahmen als auch Sozialausgaben tendenziell überproportional mit dem BIP schwanken. Da die künftige Konjunktur unbekannt ist, lässt sich eine solche Politik nicht zuverlässig planen. Aber man kann die Staatsausgaben entsprechend dem durchschnittlichen nominalen Wirtschaftswachstum verstetigen, während die Staatseinnahmen mit der Konjunktur schwanken. Das Ergebnis wäre eine antizyklische Entwicklung des Haushaltssaldos, wie man sie bei Schweden Dia6.4.1 und der Schweiz Dia6.4.2 beobachten kann.


Wir sprechen von diskretionärer Fiskalpolitik, wenn der Staat über das Wirken der automatischen Stabilisatoren hinaus seine Einnahmen oder Ausgaben planvoll verändert. Gegenüber schweren Wirtschaftskrisen werden spezielle Konjunkturprogramme des Staates formuliert. Die Frage ist, wie sich diese auf das Wirtschaftswachstum auswirken. Die Vielfalt von Faktoren und Umständen variieren die Wirksamkeit der einzelnen Konjunkturprogramme. Die wissenschaftlichen Schätzungen ihrer effektiven Multiplikatoren bieten eine hohe Spannweite.


Empirische Informationen liefern historische Fallstudien. Das erste Beispiel bieten die vielfältigen Maßnahmen der Regierung Roosevelt gegen die Great Depression in den 30er-Jahren des 19. Jh.. Die Berichte über deren Wirkungen sind allerdings sehr kontrovers. Auf der einen Seite werden nur geringe Gesundungseffekte festgestellt. Dem wird entgegengehalten, dass diese Maßnahmen nur ein relativ geringes Gesamtvolumen gehabt haben. Wirksam waren insbesondere die damaligen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.


Das nächstliegende Beispiel sind die EU-weiten Konjunkturprogramme der Jahre 2008-10. Die sehr tiefe Rezession der Jahre 2008-09 war eine Wirkung der Finanzkrise. Eine Lähmung der Kreditvergabe der Banken schwächte den realen Güterabsatz, insbesondere im Außenhandel. Deutschland erlebte einen Rückgang des BIP um minus 7%. In der EU bewirkte die Rezession eine Schrumpfung des BIP um bis zu 18% in Estland. Im EU-Durchschnitt betrug sie minus 5,4%. Die hauptsächliche Gegenwirkung der Staatsfinanzen leisteten die automatischen Stabilisatoren der Sozialausgaben für Arbeitslose, deren Wirkungen in Schweden und Irland über 10% des BIP ausmachten. Darüber hinaus beschlossen die meisten Regierungen in der EU Konjunkturprogramme.


Das Volumen dieser Konjunkturprogramme variierte von Staat zu Staat erheblich. Schweden und Deutschland lagen in der EU an der Spitze. In der EU wurden, über einen Zeitraum von zwei Jahren und verteilt auf Einnahmesenkungen und Ausgabenerhöhungen, insgesamt 3% eines jährlichen EU-BIP im Rahmen von Konjunkturprogrammen aufgewandt. Auch hier werden die Wirkungen in der Literatur unterschiedlich eingeschätzt. Dennoch kann man feststellen, dass diese Konjunkturprogramme die Rezession erkennbar abgemildert haben (EXKURS6.1).


Die primären Effekte eines Defizits fügen sich also unmittelbar dem BIP zu. Dann folgen Sekundäreffekte im Wirtschaftskreislauf. Der Multiplikator des primären Defizits verläuft über 2 bis 3 Jahre. Aber wenn der Primäreffekt beendet worden ist, laufen auch Multiplikatorwirkungen aus. Laufen die zusätzlichen Staatsausgaben in den folgenden Jahren aus, dann entfällt auch ihr Beitrag zu BIP und Beschäftigung nach dem Ende der Sekundäreffekte. So unterschiedlich die Multiplikatorschätzungen in der Literatur auch sind: alle stellen ein Auslaufen der Multiplikatorwirkungen nach wenigen Jahren fest. Ein längerfristiger Kurbel-Effekt, wonach eine vorübergehende Ausgabenerhöhung das BIP dauerhaft erhöht, geht von befristeten Defiziten nicht aus.


Der Wachstumseffekt von Haushaltsdefiziten ist zeitlich begrenzt. Aber die aus ihnen angehäuften Schulden bleiben dauerhaft.


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