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7.8. Die Geldmenge im Konzept der Geldpolitik


In den modernen Marktwirtschaften ist die unmittelbare politische Beeinflussung der Geld- und Kapitalmärkte die Aufgabe der Zentralbanken. Da in Deutschland die Vorstellungen der Öffentlichkeit über die Aufgaben einer Zentralbank von der Theorie über die Geldmenge geprägt worden ist, die ihrerseits im Widerspruch zur Realität der Kapitalmärkte steht, soll hier zunächst das geldpolitischen Konzepts der Geldmengensteuerung vorgestellt werden.


Das Geldmengenkonzept der Inflationskontrolle

Geldmenge ist der Teil des Geldvermögens, der für Zahlungen zur Verfügung steht. Er besteht aus Bargeld und liquiden, dh. kurzfristig verfügbaren Bankeinlagen.


Diese Geldmengentheorie sagt im Wesentlichen:

  • Die verfügbare Geldmenge bestimmt (multipliziert mit ihrer Umlaufgeschwindigkeit) die Summe der wirtschaftlichen Transaktionen, die das BIP finanzieren.
  • Die Umlaufgeschwindigkeit drückt aus, wie oft die Geldmenge im Laufe eines Jahres verwendet wird.
  • Da die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes eine relativ konstante Größe ist, entwickelt sich das nominale Sozialprodukt proportional zur Geldmenge.
  • Steigt die Geldmenge stärker als das reale Sozialprodukt, dann schlägt sich dies in Preissteigerungen nieder.
  • Die Größe dieser Geldmenge und ihr Wachstum werden von der Zentralbank bestimmt. Somit besitzt die Zentralbank einen bestimmenden Einfluss auf das monetäre Wachstum des Sozialprodukts. Dies erlaubt es ihr, die Inflation zu kontrollieren.


Im Sinne der monetaristischen Geldmengensteuerung hatte die EZB bei ihrer Gründung ihr Geldmengenziel postuliert: Sie erklärte eine unvermeidbare jährliche Preissteigerung von 2% zur Preisstabilität (Note7.8.1), und gemäß eines für möglich gehaltenen Wachstums des Produktionspotentials von 2,5% p.a. hat sie 1998 das Ziel gesetzt, dass die Geldmenge zur Finanzierung eines stabilen Wirtschaftswachstums in der EWU jährlich um 2% + 2,5% = 4,5% wachsen soll. Dies war eine präzise Definition der Ziele der EZB.


Das tatsächliche Geldmengenwachstum

Ursprünglich stand, in der Geschichte der ökonomischen Theorien, für die Geldmenge die Summe der von der Zentralbank ausgegebenen Noten und Münzen. Angesichts der Tatsache, dass die privaten Banken bargeldlose Zahlungsmittel zur Verfügung stellen – Giralgeld – , die in gleicher Weise zur Finanzierung von Geschäften verwendet werden wie das von der Zentralbank ausgegebene Bargeld, wurde die Geldmengendefinition im Laufe der Jahre schrittweise erweitert. Gegenwärtig wird die Geldmenge in ihrer gängigen Interpretation als M3 bezeichnet: Sie ist die Summe aller relativ kurzfristig verfügbaren Einlagen von Nichtbanken bei Banken.


Tatsächlich ist diese Geldmenge in Deutschland seit 1970 nicht proportional zum BIP gewachsen, sondern deutlich stärker. Zwischen 1970 und 1997 ist die Geldmenge 1,6-mal so stark gewachsen wie das nominale BIP, nach 1998 nahezu doppelt so stark. Nach der Theorie hätte dies eine heftige Inflation zur Folge gehabt.Tatsächlich aber waren die Preissteigerungen gering. In der EU ist die Geldmenge in den Krisenjahren gar 4-mal so stark gewachsen wie das nominale BIP, ebenfalls ohne inflationäre Folgen (durchschnittliche Jahresraten):

                                     BIP nominal        M3                    Relation    Inflationsrate

    Deutschland  

               1998-2008    +2,41%                 +4,75%              1 : 1,97       +1,7%

                2008-2013    +2,01%                +3,70%              1 : 1,85       +1,4%

     EWU 1998-2008    +4,39%                 +7,68%              1 : 1,75       +2,2%

                2008-2013    +0,79%                 +3,18%              1 : 4,04       +1,7%


Dazu kommt eine weitere Beobachtung. Die Deutsche Bundesbank führt seit langem eine Statistik aller „giralen Verfügungen“ auf Bankkonten von Nichtbanken (Giroüberweisungen, Lastschriften, Scheckverrechnungen usw.). Das ist die Summe aller Zahlungen, die während eines Jahres über Bankkonten erfolgt sind. Deren Wachstum übertraf zwischen 1998 und 2008 das nominale BIP-Wachstum in Deutschland sogar um das 2,8-fache.


Diese Beobachtungen veranlassen zu folgenden Feststellungen:

  • Die tatsächliche Geldmenge wuchs in der EWU wie auch in Deutschland langfristig fast doppelt so stark wie das BIP.
  • Die Entwicklung der Geldmenge übertraf in der EWU in den Jahren 1998 bis 2008 deutlich das Geldmengenziel der EZB.
  • Dieses übermäßige Geldmengenwachstum hatte keine inflationären Folgen.
  • Diese Beobachtungen stehen offenkundig im Widerspruch zur Geldmengentheorie.


Kritik der Geldmengentheorie

Zunächst ist zu fragen: Wieso soll die Geldmenge proportional zum BIP wachsen? – Die Geldmenge wird doch nicht nur zur Bezahlung des Sozialprodukts verwendet, sondern auch im Handel mit bestehenden Werten, sprich: Vermögenswerten. In den Anfängen der Geldmengentheorie erschien die Menge aller gehandelten Vermögenswerte gegenüber der Wertschöpfung des Bruttoinlandsproduktes als so klein, dass man sie vernachlässigen konnte. Aber infolge der explosionsartigen Entwicklung der internationalen Kapitalmärkte ist der Anteil der Vermögenstransaktionen an der Gesamtheit aller finanziellen Transaktionen erheblich angewachsen.


Das herkömmliche Geldmengenkonzept, das insb. von der deutschen Bundesbank entwickelt worden ist, und das die Geldpolitik der EZB stark beeinflusst hat, geht von der klassischen Quantitätsgleichung aus, die aufgrund von vielfältigen Beobachtungen eines engen Zusammenhanges zwischen Inflation und Geldumlauf entwickelt worden ist. Wir stellen diese Gleichung in einer Tabelle dar – Tab7.8.1.


Die originäre Quantitätsgleichung, die 1911 von Irving Fischer aus vielfältigen historischen Beobachtungen und Überlegungen formalisiert worden ist, ist in Tab7.8.1 in Gleichung 1 dargestellt:

  • Geldmenge mal Umlaufgeschwindigkeit ist gleich Preisniveau mal Handelsvolumen.


In den gängigen monetaristischen Interpretationen der Quantitätsgleichung nach dem 2. Weltkrieg wurde dieses Handelsvolumen aller Waren (Y aus Gleichung 1) mit dem BIP gleichgesetzt (Gleichung 2):

  • Geldmenge mal Umlaufgeschwindigkeit gleich Preisniveau des Bruttoinlandsprodukts mal reales Bruttoinlandsprodukt


Während in der klassischen Gleichung die vorhandene Geldmenge zur Bezahlung aller gehandelten Güter verwendet wird, unterstellt diese theoretische Uminterpretation, dass diese Geldmenge nur zur Bezahlung der in einer Periode neu produzierten Güter verwendet wird – dem BIP.


Das Verhältnis der Geldmenge zum nominalen BIP ist die Umschlagszahl V (Gleichung 2a), die „Umlaufgeschwindigkeit des Geldes“: die Häufigkeit, mit der eine bestimmte Geldmenge im Jahr verwendet wird, um die Zahlungen im produktiven Geldkreislauf abzuwickeln. Langezeit war erwartet worden, dass diese Zahl relativ konstant sei. Dem entsprechend wurde ein fester Zusammenhang zwischen Geldmenge und Preisniveau des BIP angenommen. Daraus wurde geschlossen, dass die Zentralbank über ihre Kontrolle der Geldmenge auch die Entwicklung des gesamtwirtschaftlichen Preisniveaus kontrollieren könne.


Als aber weltweit festgestellt wurde, dass die Geldmenge schneller wuchs als das nominale Sozialprodukt, ergab sich aus der Division beider Größen eine trendartig sinkende Umlaufgeschwindigkeit des Geldes: eine Geldeinheit wechselte im Laufe der Jahre immer langsamer den Besitzer – (Gleichung 2a)! Das war ein Problem! Denn dass die Umschlagshäufigkeit des Geldes angesichts der ständigen Modernisierung des Geldverkehrs nicht sinken kann, sollte eigentlich klar gewesen sein. Eher war mit einer Beschleunigung des Geldumlaufs zu rechnen.


Die monetaristischen Theoretiker aber haben an ihre Formel geglaubt und somit an die sinkende Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Es sind erstaunlich wirklichkeitsfremde Erklärungen dieses Phänomens eines immer langsameren Geldumlaufs ausgedacht worden, insbesondere die sog. Luxusguthypothese des Geldes. Danach wird das Halten von Kasse als eine Art ‚Luxus‘ betrachtet. Mit der Steigerung der Einkommen könne man sich mehr Luxus leisten, auch mehr rumliegendes Geld.


Die einfache Erklärung dieses Phänomens lautet dagegen: Die Geldmenge wächst stärker als das BIP, weil sie neben der Finanzierung des BIP in wachsendem Maße auch zur Finanzierung von Vermögenstransaktionen dient – (Gleichung 3). Diese Vermögenstransaktionen, die einen wachsenden Anteil des Geldmengenzuwachses in Anspruch genommen haben, wurden in der monetaristischen Formel – (Gleichung 2) – nicht berücksichtigt. Deshalb wurde die Umlaufgeschwindigkeit schlicht falsch berechnet.


Es gibt keine Statistik, die es uns erlaubt, die Geldmenge M3 auf die Verwendungsarten Finanzierung des Bruttoinlandsproduktes einerseits und Finanzierung der Vermögenstransaktionen – Immobilien, Wertpapiere usw. – andererseits aufzuteilen. Aber wir verfügen für Deutschland seit 1970 über Jahresdaten für das nominale BIP und die Geldmenge M3. Eine sehr vereinfachende Schätzung unter den Annahmen,

  • dass 1970 der Anteil der Vermögenstransaktionen an der Geldmenge M3 vernachlässigbar gering gewesen ist, und
  • dass die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes in Bezug auf die Finanzierung des BIP seit 1970 etwa konstant geblieben ist,

führt zu dem Ergebnis, dass 2013 in Deutschland die gesamte Geldmenge zu etwa 60% zur Finanzierung von Vermögenstransaktionen und nur noch zu 40% zur Finanzierung des Bruttoinlandsproduktes verwendet worden ist. Da beide Annahmen eher untertrieben sind, kann man annehmen, dass der Anteil der Vermögenstransaktionen noch höher liegt.


Die Gleichung 3a macht noch ein weiteres deutlich: Die Inflationsentwicklung des BIP (Pbip) lässt sich im Zusammenhang der Geldmengenbeobachtung nicht von den Preisänderungen der gehandelten Vermögen (Pvt) unterscheiden, wobei überdies Preissteigerungen des BIP unerwünscht und Preissteigerungen der Vermögen als Wertsteigerungen erwünscht sind.


Insgesamt können wir festhalten:

  • Die bei den Banken von den Einlegern geschaffene Geldmenge wird heute überwiegend zur Finanzierung von Vermögenstransaktionen und erst in 2. Linie zur Finanzierung der produzierenden Wirtschaft verwendet.


Angesichts dieser Beobachtungen kann man bezweifeln, dass der zu Vermögenstransaktionen verwendete Teil der Geldmenge überhaupt Einfluss auf die realwirtschaftliche Inflationsrate haben kann. Denn um die Inflationsrate des BIP zu erhöhen müsste die Geldmenge aus den Kapitalmarktransaktionen der Vermögenden massenhaft in den privaten Konsum zurückfließen, was die Zentralbank mit konjunkturdrosselnden Zinserhöhungen beantworten würde.


Die Geldmenge M3 umfasst alle Einlagen bei Banken, die nicht langfristig festgelegt sind. Die von der Statistik ausgewiesene Summe der existierenden Geldmenge ist der Betrag des Geldes, der im Jahresdurchschnitt auf den Bankkonten in liquider Form ruht. Das BIP ist die Summe der Wertschöpfungen, die im Laufe eines Jahres stattgefunden haben. Es ist schon eine merkwürdige Vorstellung: dass diese Menge von liquiden Einlagen die Größe des künftigen BIP quantitativ determinieren könne.


Wir halten aufgrund von statistischen Beobachtungen fest:

  • Es gibt keinen festen Zusammenhang zwischen Geldmengenentwicklung und Wirtschaftswachstum. 
  • Es gibt auch keinen festen Zusammengangzwischen Geldmengen-entwicklung und Inflation.
  • Es ist der EZB seit ihrer Gründung nicht ansatzweise gelungen, die Entwicklung der Geldmenge zu steuern.


Die EZB hat zwar der Geldmengentheorie nicht abgeschworen. Aber heute dient ihr die Geldmenge lediglich als ein Beobachtungsfaktor der monetären Entwicklung unter vielen zur Orientierung ihrer Geldpolitik.


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