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7.9.3. Der Zinsverfall und Einfluss der EZB auf die Marktzinsen

In der Öffentlichkeit herrscht der Eindruck vor, die Zentralbank bestimme das allgemeine Niveau der Marktzinsen, und insbesondre EZB-Chef Draghi wird in Deutschland vielfach für die niedrigen Zinsen verantwortlich gemacht. Dem widersprechen Beobachtungen, die im Folgenden dargestellt werden.

Dem widerspricht ganz unmittelbar die Beobachtung der Wirkungen der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank in den Jahren 2011 und 2012. Mit Beginn der Finanzkrise, zwischen Oktober 2008 und April 2009, hatte die EZB ihre Zinssätze rigoros gesenkt, den Hauptrefinanzierungssatz für Kredite an Banken von 4,25% auf 1%. Als aber Anfang 2011 die Marktzinsen Aufwärtstendenzen signalisierten, erhöhte die EZB ab April 2011 ihre Zinssätze in 2 Schritten um 0,5%-Punkte. Damit wollte sie eine allgemeine Zinswende nach oben einleiten.

Aber das ist ihr nicht gelungen. Trotz erhöhter EZB-Zinsen sanken die Marktrenditen, und der Tagesgeldsatz fiel unter 1%. Angesichts mangelnder Geldnachfrage der Wirtschaft und einem Einlagezinssatz der EZB von 0,75% verlagerten die Banken zunehmend überschüssiges Geld zur Zentralbank. Die Bankeinlagen bei der EZB (Einlagefaszilitäten) stiegen von Juni 2011 bis Juli 2012

  • in Deutschland von 8 Mrd.€ (0,3% BIP) auf 293 Mrd.€ (10,6% BIP),
  • in der gesamten EWU von 18 Mrd.€ (0,2% BIP) auf 770 Mrd.€ (7,9% BIP).

Mangels privater Zinserträge ließen sich die Banken auf diesem Weg Zinsen von der EZB bezahlen. Das zwang die EZB, ihre Zinssätze wieder zu senken. Erst als ihr Einlagezinssatz im Juli 2012 auf Null gesetzt worden war, begannen diese Bankeinlagen aus der EZB wieder abzufließen. Hier wird deutlich, dass Zinssenkungen der EZB in Zeiten hoher Liquidität vom Markt erzwungen werden, dh. von der Masse der überschießenden Liquiditätsreserven der Banken. Diese Zinssenkung war keine Aktion der EZB, sondern eine Reaktion gegen die Flut der Geldeinlagen von Banken.

Seit 2013 ist eine Besorgnis erregende Entwicklung zu beobachten: Im Bankensystem Deutschlands wuchs der Anteil der liquiden Einlagen (Laufzeit bis zu 2 Jahre) von Nichtbanken am gesamten Geldvermögen auf Kosten der nicht-liquiden Einlagen von Ende 2011 bis Ende 2017 stetig an – siehe Dia7.9.4 – (in % des Geldvermögens):

                                                     2011                             2017                           Veränderung

    liquide Einlagen                    7,2%                            8,7%                           +1,5%-Punkte

    nicht-liquide Einlage            5,6%                            3,7%                            -2,1%-Punkte

Was ist die Ursache dieser Liquiditätsentwicklung? – Seit 2011 sind die langfristigen Marktzinsen von 4% auf unter 1% gefallen. Geldbesitzer scheuten sich zunehmend, ihr Geld bei so niedrigen Zinsen längerfristig festzulegen. Sie zogen es vor, ihr Geld rasch verfügbar zu halten: „Liquiditätsvorliebe“.

Das führt uns zu der Frage: Warum sind die Zinsen so niedrig? Warum steigen sie nicht wieder?

Ein eindrucksvolles Bild liefert die Beobachtung der historischen Zinsentwicklungen in Deutschland, in der EWU und in den USA, die sich als langfristige Abwärtstrends der Anlagezinsen darstellen, die gegen Null streben – siehe Dia7.9.5. Hier die langfristige Entwicklung der Zinsen von Staatsanleihen (im Jahresdurchschnitt):

                  1981         1990          2000          2007          2015

   DE       10,13%      8,71%        5,26%       4,12%        0,50%

   USA    13,91%      8,55%        6,03%       4,63%        2,14%.

Einen Teil dieser Entwicklung könnte man durch die langfristig fallenden Inflationsraten erklären. Aber in Deutschland seit 1990 und in den USA seit 2000 fallen auch die preisbereinigten langfristigen Kreditzinsen. Zieht man von den Zinssätzen die Inflationsraten ab, so erhält man die realen langfristigen Zinssätze:

                 1981          1990          2000          2007          2015

   DE        4,33%        6,21%        4,33%       2,32%      -0,70%

   USA     3,41%         3,55%        3,63%       2,33%       0,34%.

Es handelt sich also um einen Jahrzehnte langen weltweiten Trend der fallenden Zinsen.

Dieser Trend fallender Marktzinsen wird von den Zinssätzen der Zentralbanken begleitet. Die Zentralbanken bemühen sich mit ihrer Geldpolitik, den Marktzins zu beeinflussen. Die Diagramme für die USA 1990-2016 – Dia7.9.7, für Deutschland 1991-1998 – Dia7.9.6 und für die EWU 2001-2016 – Dia7.9.8 veranschaulichen diese Geldpolitiken. Es stellt sich die Frage, ob diese Geldpolitiken den Fall der Marktzinsen/Renditen verursacht haben. Insbesondere die weltweit führende amerikanische Geldpolitik käme dafür in Betracht.

Zur Klärung dieser Frage testen wir die Zusammenhänge von langfristigen Marktzinsen und Zentralbankzinsen. Um Ursache und Wirkung zu bestimmen, prüfen wir anhand von Monatsdaten den Vorlauf bzw. Nachlauf der Zeitreihen. Unsere Befunde lauten:

  • In den USA folgten im Durchschnitt der Jahre 1990-2016 die Zinssätze der FED den langfristigen Marktzinsen mit einer Verzögerung von einem Monat (signifikant = 0,012) (Z.US.1.90-16).
  • In Deutschland folgte im Durchschnitt der Jahre 1991-1998 der Diskontsatz der Bundesbank den langfristigen Marktzinsen mit einer Verzögerung von sieben Monaten (schwach signifikant = 0,077) (Z.DE.3.91-98).
  • In der EWU folgte im Durchschnitt der Jahre 2001-16 der Hauptfinanzierungssatz der EZB den langfristigen Marktzinsen mit einer Verzögerung von einem Monat (signifikant = 0,011) (Z.EA.7.01-16).

Die Zinssätze der Zentralbanken folgen also den langfristigen Marktzinsen. Sie sind nicht Ursache der fallenden Marktzinsen.

In der Sicht der klassischen Wirtschaftstheorie war diese Zeit sinkender Zinsen durch eine hohe Liquiditätspräferenz der Besitzer von Geldvermögen charakterisiert. Sie sei Ausdruck einer großen Unsicherheit bezüglich der Chancen längerfristiger Geldanlagen. Diese Unsicherheit des Geldangebots reicht aber zur Erklärung der dauerhaften Liquiditätsschwemme nicht aus. Warum steigen dann nicht die Zinsen? – Offensichtlich gibt es keine ausreichende Geldnachfrage: Die im Verhältnis zum BIP übermäßig wachsenden Geldvermögen finden keine ausreichende Nachfrage von Kreditnehmern.

Die klassischen Theorien unterstellen, dass niedrige Zinsen zu steigenden Investitionen führen. Deshalb interpretieren sie diese „Liquiditätsfalle“ als besonderen Umständen geschuldeten Sonderfall, und Keynes sprach von einem Problem der Wirtschaft mit dem „Anlasser“, der durch einen fiskalischen Nachfragestoß behoben werden könnte. Tatsächlich reagieren die realen Investitionen, wie wir gesehen haben, wenigsten seit 1991 nicht auf Zinsänderungen. Tatsächlich berührte diese Liquiditätsschwemme die Investitionsneigung der Unternehmen nicht: Weder stärkten die niedrigen Zinsen die realwirtschaftliche Investitionsneigung erkennbar, noch lähmte die Liquiditätspräferenz der Vermögensbesitzer die realwirtschaftliche Investitionsneigung. Die Zinsen sanken trendartig – unberührt von der realwirtschaftlichen Entwicklung.

Bemerkenswert ist auch, dass dieser Niedergang der Zinsen in Deutschland nach 1998, von 5% auf 0%, keinen Einfluss auf die Sparneigung der Privaten Haushalte gehabt hat. Testen wir die Veränderungen der privaten Sparquote in Abhängigkeit von den Veränderungen der Umlaufrendite öffentlicher Anleihen, so finden wir für Deutschland folgende Ergebnisse:

  • 1991-1998:

    schwach signifikanter, mittlerer Einfluss der Umlaufrendite (Z.DE.5.91-98);

  • 1999-2016:

    nicht signifikanter, minimaler Einfluss der Umlaufrendite (Z.DE.6.99-16);

Die fallenden Renditen haben in Deutschland wenigstens seit 1999 nur einen marginalen Einfluss auf die Sparneigung der Privaten Haushalte gehabt.

Diese Befunde drücken aus, dass sich die Zinspolitik der Zentralbanken an der Entwicklung des tatsächlichen Marktzinses orientiert. Der fallende Zinstrend gegen Null ist nicht das Werk der Zentralbanken. Die fallenden Renditen haben auch die Sparneigung nicht geschwächt. Und sie sind nicht von den Entwicklungen der Realwirtschaft beeinflusst. Das bedeutet: Der Zinsverfall ist einProdukt des Geldmarkes.

Das Geldangebot ist in den letzten 15 Jahren stärker gewachsen als die Geldnachfrage. Das bestätigen sehr unterschiedliche Quellen. Zwischen 1999 und 2016 bzw. 2015 sind weltweit die Geldeinlagen bei Banken deutlich stärker gewachsen als das BIP, das die produktive Geldnachfrage repräsentiert (BIP-Wachstum = 1,00):

                                               Quelle                                                99-15                    99-16

    Private Bankeinlagen     Bundesbank      Deutschland                                       1,15

                                                                           EWU                                                    1,43

    Bankeinlagen                   Worldbank        USA                        1,37

                                                                           Welt                        1,56

    Geldmenge M3                Bundesbank     Deutschland                                        1,31

                                                                           EWU                                                    1,47

    Erweiterte Geldmenge   Worldbank        USA                                                      1,34

                                                                           Welt                                                      1,14

Weltweit sind von 1995 bis 2015 dieBankguthaben von 32% auf 50% des weltweiten BIP gestiegen, wie dieses Diagramm zeigt: Dia7.9.9. Sie sind damit wesentlich stärker gestiegen als das BIP, von dem die Investitionsnachfrage abhängt. Dieses Ungleichgewicht von Geldangebot und Geldnachfrage hat die Zinsen trendartig sinken lassen – gegen Null.

In Deutschland haben wir beobachtet, dass das überproportionale Wachstum der Ersparnisse auf die hohe Sparquote der hohen Einkommen zurückzuführen ist (Kap.4.8). Das wachsende Geldangebot resultiert aus weltweiten „Ersparnissen“. Die Entwicklung dieser Ersparnisse der Vermögenden reagiert nicht auf den Zinssatz und somit nicht auf die Geldnachfrage. Die weltweiten Zinsen können erst wieder steigen, wenn die Entwicklungen von Geldangebot und Geldnachfrage ausgeglichen werden. Bis dahin wird es bei den Niedrigzinsen bleiben.

Schlussfolgerungen:

  • Insgesamt bestimmen Geldangebot und Geldnachfrage die Zinshöhe.
  • Die Zentralbank versucht mit ihrer Geldpolitik, orientiert an ihrem Ziel der Preisstabilität, diese Zinsen zu erhöhen oder zu verringern. Ihr Einfluss ist dabei begrenzt.
  • Das Geldangebot der Ersparnisse reagiert nicht auf Zinsänderungen.
  • Es ist ein weltweites Überangebot von wachsenden anlagesuchenden Geldvermögen, das die Zinsen langfristig gegen Null sinken lässt.
  • Solange sich an diesem Überangebot nichts ändert, ist keine Beendigung der Niedrigzinsphase zu erwarten.


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