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EXKURS 5.1. Die Hartz-IV-Reformen


Den Hartz-IV-Reformen wird ein besonderer, positiver Einfluss auf die Beschäftigungsentwicklung in Deutschland zugeschrieben, nicht zuletzt in der jüngsten Zeit, in der vom „deutschen Beschäftigungswunder“ gesprochen wird.


Grundlage dieser deutschen Arbeitsmarktreformen, die 2003 durch das Paket der Hartz-Gesetze umgesetzt worden sind, waren die Vorschläge einer Kommission „moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, die Bundeskanzler Schröder eingesetzt hatte. Vorsitztender dieser Kommission war Peter Hartz, damals Personalvorstand von VW. Ziele der Vorschläge der Kommission waren eine Senkung der Arbeitslosigkeit und ein Effektivierung der öffentlichen Arbeitsvermittlung, um möglichst viele Erwerbspersonen in den Produktionsprozess einzugliedern. Die Kommission versprach in ihrem Bericht eine Senkung der Arbeitslosigkeit in Deutschland binnen 3 Jahren um 2 Millionen. Bei 4 Millionen Arbeitslosen (10,5%) hätte das eine Halbierung der Arbeitslosigkeit bedeutet.


Die 4 Hartz-Gesetze „für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, die der Bundestag beschlossen hat, hatten vor allem zum Inhalt:

I. Personal-Service-Agenturen zur Verleihung von Arbeitnehmern;

II. Einführung von abgabenfreien Mini-Jobs zur Verminderung von Schwarzarbeit;

III. Reorganisation der staatlichen Arbeitsvermittlung;

IV. Zusammenlegung von Arbeitslosenunterstützung und Sozialfürsorge.


Das 4. Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, kurz Hartz IV, ist Ende 2003 beschlossen worden und am Anfang 2005 in Kraft getreten. Seine Kernelemente waren:

  • Beschränkung der Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung von maximal 32 auf maximal 18 Monate – nun Arbeitslosengeld I;
  • Zusammenfassung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II;
  • Beschränkung dieser Leistungen zum Lebensunterhalt auf ein sozio-kulturelles Existenzminimum (dies entspricht den durchschnittlichen Ausgaben der ärmsten 15% der Bevölkerung);
  • eigenes Vermögen muss vorrangig zum Lebensunterhalt verwendet werden, ausgenommen ein Schonvermögen (selbstgenutztes Wohneigentum, Rücklagen bis maximal 400€ pro Person und Lebensjahr);
  • Arbeitslose müssen, unabhängig von ihrer Qualifikation oder ihrer bisherigen Berufstätigkeit, jede Arbeit annehmen. Weigerungen werden mit Minderung der Unterhaltszahlungen bestraft.

Das zu lösende Problem wurde in der Gesetzesbegründung nur sehr vage umschrieben:

  • „Wegen der konjunkturellen Krise, aber auch wegen struktureller Defizite am Arbeitsmarkt ist die Entwicklung bei der Arbeitslosigkeit gegenwärtig nicht zufriedenstellend. Die von der Kommission vorgelegten Vorschläge sind aus der Sicht der Bundesregierung geeignet, den Abbau der Arbeitslosigkeit nachhaltig zu beschleunigen.“

Die euphorischen Versprechungen der Hartz-Kommission wurden nicht übernommen.


Tatsächlich entwickelten sich die Arbeitslosenzahlen in den Jahren 2004 bis 2007 wie folgt:

    2004:     4,39 Mio.,

    2005:     4,86 Mio.,

    2006:     4,49 Mio.,

    2007:     3,76 Mio.


Den Erfolg dieser Reformen kann man jedoch nicht einfach an der Entwicklung der Arbeitslosigkeit ablesen. Die Jahre ab 2005 waren durch eine besonders starke Exportkonjunktur geprägt. Und in den Jahren nach der Finanzkrise veränderte sich die Struktur der Beschäftigung in Deutschland erheblich: Zwischen 2008 und 2014 sind 1,9 Mio. neue Arbeitsplätze hinzugekommen, davon

  • 34% überwiegend durch Arbeitszeitverkürzung (Jobzerlegung),
  • 30 % bei Unternehmensdienstleistern, wovon ein Drittel Arbeitnehmer-überlassungen waren (Leiharbeit, Hartz I),
  • 40% im öffentlichen Gesundheits- und Sozialwesen.


Der Erfolg der Reformmaßnahmen müsste sich in einer Verringerung der Arbeitslosigkeit bzw. einer Vermehrung der Beschäftigung ausgedrückt haben, und zwar über die normalen konjunkturellen Beschäftigungseffekte der Wirtschaftsentwicklung hinaus. Angesichts der Tatsache, dass die Entwicklung der Beschäftigung vor allem vom Wirtschaftswachstum bestimmt wird, müsste sich die den Hartz-Reformen zugrundeliegende Kritik auf eine mangelhafte Reaktion der Beschäftigungsentwicklung auf das Wirtschaftswachstum beziehen, und diese Reaktion müsste durch die Reformen verbessert worden sein.


Den Trend des Zusammenhanges von Wachstum und Beschäftigung haben wir als langfristige Produktivitätsentwicklung betrachtet (Kap.4.5). Davon unabhängig haben wir die kurzfristigen Veränderungen als Korrelationszusammenhang getestet. Bei der Frage nach der Wirkung der Hartz-Reformen auf die Beschäftigung geht es um diesen Zusammengang. Eine positive Beschäftigungswirkung dieser Reformen des Jahres 2004 müsste sich darin bemerkbar gemacht haben, dass die Korrelation von Beschäftigungsveränderungen und Wachstumsrate nach 2004 stärker gewesen ist als in den Jahren zuvor.


Wir testen deshalb:

1. Deutschland 1991-2004: Quartalsdaten, Veränderungen gegenüber Vorjahr (F.DE.12.1991-04)

Abhängig: Arbeitnehmerstunden

  • a) Die Letzte Verwendung des BIP, preisbereinigt, hat einen hoch signifikanten mittleren Einfluss auf die Arbeitnehmerstunden. Der Regressor (Elastizität der Arbeitnehmerstunden in Bezug auf die Letzte Verwendung des BIP) ist 0,32.

2. Deutschland 2005-2014: Quartalsdaten, Veränderungen gegenüber Vorjahr (F.DE.13.2005-14)

Abhängig: Arbeitnehmerstunden

  • a) Die Letzte Verwendung des BIP, preisbereinigt, hat einen hoch signifikanten und hoch dominanten Einfluss auf die Arbeitnehmerstunden. Der Regressor (Elastizität) ist 0,43.


Der Zusammenhang von Wachstum und Beschäftigungsveränderung wird auch als Elastizität der Beschäftigung in Bezug auf das Wachstum formuliert: 1% Wirtschaftswachstum bewirkt x% Beschäftigungsveränderung. Diese Elastizität war, wie die beiden Tests zeigen, zwischen 1991 und 2004 0,32 und ist nach 2005 auf 0,43 gestiegen. (DiaEx5.1.1). Das Ergebnis bedeutet: Nach 2005 hatte das Wirtschaftswachstum einen erkennbar größeren Einfluss auf die Beschäftigungsentwicklung als in den Jahren zuvor (NoteEx5.1.1). Dies könnte ein positiver Effekt der Hartz-Reformen gewesen sein.


Als Indikator für die Mängel des deutschen Arbeitsmarktes wurde in besonderem Maße die hohe Langzeitarbeitslosigkeit betrachtet. Die Hartz-Reformen zielten insbesondere auf den Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit ab. Aber diese Erwartungen sind enttäuscht worden.


Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit hat sich der Anteil der Langzeitarbeitslosen an der Gesamtheit der Arbeitslosen im Gefolge der Hartz-Reformen nicht verringert (NoteEx5.1.2):

    2000    37,4%

    2004    34,8%

    2005    36,2%

    2006    41,6%

    2007    46,1%

    2009    33,3%

    2015    37,2%.


Ein weiteres wichtiges Ziel der Hartz-Reformen war die Überwindung der Jugendarbeitslosigkeit gewesen: Kein Jugendlicher, der sich darum bemühte, sollte ohne Job oder Ausbildungsstelle bleiben. Tatsächlich ist die Jugendarbeitslosigkeit (15-20 Jahre) zwischen 2004 und 2007 nahezu konstant geblieben, und längerfristig hat sich die Jugendarbeitslosigkeit nicht anders entwickelt als die Gesamtarbeitslosigkeit.


Stark zugenommen hat dagegen die Arbeitnehmerüberlassung/Leiharbeit, die von den Hartz-Reformen erleichtert und gefördert worden ist (Hartz I): von 328 Tausend Leiharbeitnehmern im Dezember 2003 auf 883 Tausend im Dezember 2014. Die Leiharbeit funktioniert inzwischen erkennbar als Konjunkturpuffer: sie steigt im Aufschwung und sinkt im Abschwung.


Die Entwicklungen der viel diskutierten prekären Arbeitsverhältnisse hat erkennbar wenig mit den Hartz-Reformen zu tun (DiaEx5.1.2):

  • Die Zahl der Beschäftigten in abgabefreien Mini-Jobs ist zwar von 2003 bis 2014 von 6,7 Mio. auf 7,7 Mio. gewachsen. Dahinter steht jedoch eine entsprechende Zunahme der Mini-Jobs in Nebentätigkeit. Die Zahl der ausschließlich geringfügig entlohnten Beschäftigten stagnierte dagegen seit 2003 bei knapp unter 5 Millionen.
  • Die Zahl der ausschließlich kurzfristig Beschäftigten, 2004 400 Tausend, sankt seitdem tendenziell.
  • Stark zugenommen hat die Teilzeitarbeit, allerdings erst nach der Finanzkrise 2008. Die Bundesregierung hatte 2008 im Rahmen ihres Konjunkturprogramms zur Bekämpfung der Auswirkungen der Finanzkrise u.a. befristete Förderungen der Kurzarbeit beschlossen, mit vollem Erfolg (Exkurs6.1). In der Krise 2009/10
    • ist das reale BIP um -6,9% eingebrochen,
    • die Zahl der Erwerbstätigenstunden um -4,9%,
    • aber die Zahl der Erwerbstätigen ist nur um -0,3% gesunken,
    • und die Zahl der Arbeitslosen lag 2010 um 20 Tausend unter der von 2008.


Inzwischen haben immer mehr Unternehmen gelernt, dass es nützlicher ist, mit den Konjunkturschwankungen nicht die Zahl ihrer Beschäftigten schwanken zu lassen, sondern deren Arbeitszeit. Das hat die Entwicklung der Beschäftigung in Deutschland verstetigt und die Zahl der Arbeitslosen deutlich verringert. Seit Sommer 2013 wächst in Deutschland die Zahl der Arbeitnehmer sehr stetig und weitgehend von der Konjunktur abgekoppelt in Raten zwischen +0,7% und +1,4% pro Jahr, während die Zahl der Arbeitnehmerstunden unverändert mit der Wachstumsrate schwankt – siehe DiaEx5.1.3.


Diese Entwicklung hat nichts mit den Hartz-Reformen zu tun. Zwar war eine Leitidee von Peter Hartz, die er bei VW ansatzweise durchgesetzt hatte, der „atmende Betrieb“, der in Abschwung nicht Arbeitnehmer entlässt, sondern die Arbeitszeit verkürzt. Aber dieses Thema kam in den Vorschlägen der Hartz-Kommission nicht vor. Die Flexibilisierung der Arbeitszeit ist in Deutschland vielmehr Resultat tariflicher Vereinbarungen auf der Grundlage des Arbeitszeitgesetzes von 1994.


Der zentrale Ansatzpunkt der Hartz-Reformen war die Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln und die raschere Senkung der Arbeitslosen-unterstützungen auf das soziokulturelle Existenzminimum. Dies hat erhebliche Wirkungen gehabt. Dem Statistischen Bundesamt zufolge sind die Ausgaben des Staates für Arbeitslose und Sozialhilfe von 2004 bis 2008 um 10% gesunken.

  • Die Arbeitslosenzahl hat in dieser Zeit um 14% zugenommen.
  • Die Aufwendungen pro Arbeitslosem sind in dieser Zeit um ca. 20% gesunken.
  • Laut Einkommens- und Verbraucherstichprobe (Kap.4.8) ist das nominale Durchschnittseinkommen von Arbeitslosenhaushalten von 2003 bis 2008 um 25,1% gesunken.
  • Die Lebenshaltungskosten sind von 2004 bis 2008 um 9% gestiegen.
  • Das spricht für eine reale Senkung der durchschnittlichen Unterstützungszahlungen pro Arbeitslosem durch die Hartz-IV-Reformen um ein Drittel.
  • Laut Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung von 2017 (NoteEx5.1.3) ist das Armutsrisiko von Arbeitslosen (Anteil der Personen mit einem Nettoäquivalenzeinkommen von unter 60% des mittleren Einkommens) von 33,9% im Jahre 2000 auf 57,6% im Jahre 2010 gestiegen.
  • Gespart hat der Staat durch diese Reform Ausgaben in Höhe von 0,7% des BIP.


Diese Reformen haben die vorhandenen Langzeitarbeitslosen nicht in Arbeit gebracht. Ihre Zahl ist zwischen 2004 und 2007 sogar noch gewachsen. Aber es ist nachvollziehbar, dass diese Kürzungen der Unterhaltszahlungen, verbunden mit einer strikteren Anwendung des Drucks der Job-Center, die Bereitschaft erhöht hat, gering bezahlte Angebote anzunehmen. Neben den Tariflöhnen hat die Höhe der Arbeitslosenunterstützung auf den Arbeitsmärkten die Funktion eines Mindestlohnes: Unter dieser Schwelle wird ein Arbeitsloser freiwillig keine Arbeit annehmen. Die Hartz-Reformen haben deshalb zu einer Senkung der Löhne vor allem im Niedriglohnbereich beigetragen. Dass dies zu mehr Beschäftigung geführt hat, ist anzunehmen.


Wir fassen unsere Beobachtungen zu den Hartz-Reformen zusammen:

  • Die verheißene Halbierung der Arbeitslosigkeit hat nicht stattgefunden.
  • Die marktadäquate Reaktion der Beschäftigung auf das Wirtschafts-wachstum ist in Deutschland nach 2005 deutlich stärker worden.
  • Der Anteil der Langzeitarbeitslosen an der gesamten Arbeitslosigkeit hat sich nicht verringert.
  • Die Arbeitslosenquote von Jugendlichen hat sich nicht besser entwickelt als die der Gesamtheit.
  • Um eine halbe Million hat die Zahl der Leiharbeitnehmer zugenommen. Deren Beschäftigungsverhältnisse schwanken als Konjunkturpuffer.
  • Die Zahl der ausschließlich geringfügig entlohnten Arbeitsverhältnisse hat nach 2004 nicht zugenommen, und die Zahl der nur kurzfristig Beschäftigten ist sogar gesunken.
  • Die Reform hat aber die Unterstützungen zum Lebensunterhalt von Arbeitslosen im Durchschnitt um ein Drittel gesenkt. Das Armutsrisiko der Arbeitslosen ist deutlich erhöht worden.
  • Da diese Unterstützungen auf dem Arbeitsmarkt zugleich die Funktion einer Lohnuntergrenze haben, ab der Arbeitslose eine Arbeit annehmen müssen, hat sie zwangsläufig die Untergrenze der Arbeitnehmer-einkommen gesenkt und die Zahl der Beschäftigten im Niedriglohnbereich erhöht.


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