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EXKURS 5.2. Arbeitslosigkeit – theoretische Interpretationen und Wirklichkeit


Um die ökonomische Bedeutung der Arbeitslosigkeit sind in der Vergangenheit berühmte theoretische Debatten geführt worden, die von bemerkenswerten Verkennungen der empirischen Realitäten geprägt waren. Vor allem ging es um die klassische theoretische Annahme: Je niedriger die Lohnhöhe, desto höher die Beschäftigung.


1958 veröffentlichte der britischen Ökonometriker Allain William Phillips die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung über den Zusammenhang zwischen Lohnentwicklung und Höhe der Arbeitslosigkeit (NoteEx5.2.1). Aufgrund von britischen Daten der Jahre 1862 bis 1913 stellte er diesen Zusammenhang in einer Kurve dar, die unter der Bezeichnung „originale Phillipskurve“ berühmt geworden ist – siehe DiaEx5.2.1. Während Gewerkschafter und Arbeitgeber seit über hundert Jahren wussten, dass in individuellen wie kollektiven Lohnverhandlungen bei geringer Arbeitslosigkeit höhere Abschlüsse zu erreichen waren als bei hoher Arbeitslosigkeit, war für die klassischen Theoretiker ein solcher Zusammenhang unvorstellbar. Deshalb stellten Phillips’ Beobachtungen für die Theorie eine Provokation dar.


1960 hat der spätere Nobelpreisträger Paul A. Samuelson zusammen mit seinem Kollegen Robert M. Solow, beide USA, in einem vielbeachteten Aufsatz den Beobachtungen von Phillips eine brisante politische Interpretation gegeben (NoteEx5.2.2). Er „vermutete“, dass hinter dem scheinbaren Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Lohnentwicklung ein tatsächlicher Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation verborgen sei: je niedriger die Arbeitslosigkeit, desto höher die Inflation. Der Politik bliebe nur die Wahl zwischen höherer Arbeitslosigkeit und höherer Inflation. In der originalen Phillipskurve ersetzte Samuelson die Variable Lohnentwicklung durch die Inflationsrate. Diese veränderte Kurve Samuelson’s wird in der theoretischen Diskussion seitdem als „Phillipskurve“ bezeichnet.


Genau genommen wurde in dem von Phillips beobachteten Zusammenhang von Samuelson/Solow die Variable jährliche Lohnsteigerungen durch die Variable jährliche Preissteigerungen ersetzt, und zwar definiert: Inflationsrate = Lohnanstieg in % minus 2 – siehe DiaEx5.2.2.


Die implizite Annahme von Samuelson/Solow, die Arbeitslosigkeit sei ohne Einfluss auf die Reallohnentwicklung, hätte damals leicht empirisch überprüft werden können. Hätten die Ökonomen Samuelson und Solow oder die debattierende Fachwelt diese Uminterpretation empirisch überprüft, dann hätten sie anhand von us-amerikanischen Daten für die Jahre 1948 bis 1960 folgendes festgestellt:


1. USA 1948-60: Jahresdaten (N = 10, die Reihen sind sehr kurz) (G.US.1.1948-60)

Abhängig: nominale Stundenlöhne der Produktionsarbeiter, Veränderungen gegenüber Vorjahr

  • a) Die Arbeitslosenquote hatte einen schwach signifikanten, mittleren negativen Einfluss auf die Löhne.

2. USA 1948-60: Jahresdaten (N = 10, die Reihen sind sehr kurz) (G.US.2.1948-60)

Abhängig: Inflationsrate

  • a) Die Arbeitslosenquote hatte einen nicht signifikanten, geringen negativen Einfluss auf die Inflationsrate.

3. USA 1948-60: Jahresdaten (N = 10, die Reihen sind sehr kurz), Veränderungen gegenüber Vorjahr (G.US.3.1948-60)

Abhängig: preisbereinigte Stundenlöhne der Produktionsarbeiter

  • a) Die Arbeitslosenquote hatte einen signifikanten, dominanten negativen Einfluss auf die Reallöhne.


Für die damalige amerikanische Realität hatte also Phillips recht, und die Uminterpretation durch Samuelson/Solow war ein Irrtum, resultierend aus falschen theoretischen Annahmen und Verzicht auf empirische Überprüfung. Sicherlich aber ist die Arbeitslosigkeit nur eine von mehreren Einflussgrößen, die auf die Lohnentwicklung einwirken, und die unterschiedlichen Kulturen der Lohnfindung lassen diesem Faktor unterschiedlichen Raum. Für Deutschland lassen sich für die Jahre 1991-2005 ähnliche Ergebnisse feststellen wie für die USA 1948-60, während für die Jahre 2006-14 ein hoch signifikanter, dominanter negativer Einfluss der Arbeitslosenquote auf die Inflationsrate festzustellen ist – Beta = -0,61.


Der bedeutendste und ebenfalls mit einem Nobelpreis geehrte Kontrahent Samuelson’s war Milton Friedman, der zusammen mit seinem Kollegen Edmund S. Phelps, beide USA, Ende der 60er Jahre eine andere Interpretation der Phillipskurve präsentierte (NoteEx5.2.3):

  • Nicht die Inflationsrate variiere mit der Arbeitslosenquote, sondern die Rate der Veränderung der Inflation.
  • Wenn eine bestimmte Arbeitslosenquote unterschritten wird, dann nimmt die Inflationsrate ständig zu.
  • Der Preis einer zu geringen Arbeitslosigkeit sei nicht eine höhere Inflationsrate, sondern eine galoppierende Inflation – wofür niemand sein konnte.
  • Die Arbeitslosenquote, bei der die Inflationsrate stabil bliebe, ließe sich berechnen: NAIRU = Non Accelerating Inflation Rate of Unemployment. Es gab also eine „natürliche Arbeitslosenquoten, die nicht unterschritten werden sollte.
  • Würde die Arbeitslosigkeit dauerhaft unter ihrem natürlichen Niveau gehalten, dann sei der Preis dafür nicht eine einmalige Erhöhung der Inflationsrate, sondern eine ständige Beschleunigung der Inflationsrate, also eine galoppierende Inflation.


Diese Theorie setzte sich in der Öffentlichkeit durch, als Anfang der 70er Jahre im Gefolge der Ölpreis-Krise und deren Inflationsfolgen die Gewerkschaften in vielen Ländern mit Lohnkämpfen reagierten und so die Inflationsrate in die Höhe trieben. Aber auch diese Theorie war frei von empirischen Belegen. Einen empirischer Test mit den damals zur Verfügung stehenden Daten hätte sie nicht bestanden:

4. USA 1948-70: Jahresdaten (G.US.4.1948-70)

Abhängig: Inflationsrate, Veränderungen gegenüber Vorjahr,

  • a) Die Arbeitslosenquote hatte nur einen nicht signifikanten, schwachen negativen Einfluss auf die Veränderungen der Inflationsrate.

Diese Arbeitslosenquote konnte die Inflation also weder beschleunigen noch bremsen.


Aber die NAIRU, wenn auch umstritten, setzte sich in der Ökonomie als Beobachtungskriterium durch. Die OECD veröffentlicht Zeitreihen über die jährliche Höhe der NAIRU in zahlreichen Staaten. Die Beobachtung dieser Ergebnisse ist bemerkenswert. Im Sinne der Theorie Friedman’s wäre es, wenn diese NAIRU eine relativ stabile Größe wäre, unabhängig von den Veränderungen der Arbeitslosenrate: die natürliche Arbeitslosenrate, bei deren Unterschreitung die Inflationsrate wächst.


Vergleicht man aber die von der OECD errechneten NAIRU-Werte mit der tatsächlichen Arbeitslosenquote über den Zeitraum 1970-2014, dann finden sich von Land zu Land sehr unterschiedliche Ergebnisse. Während für die USA die NAIRU relativ konstant bei 6% lag – DiaEx5.2.3, schwankte sie, eng angeschmiegt an die tatsächliche Arbeitslosenquote, für Frankreich zwischen 3% und 9,5% - DiaEx5.2.4, für Italien zwischen 5,5% und 9,5% - DiaEx5.2.5 und für das Vereinigte Königreich zwischen 4,5% und 10% - DiaEx5.2.6. Das besagt: Die NAIRU war in diesen Ländern immer annähernd so hoch wie die tatsächliche Arbeitslosenquote. Und in Irland lag die tatsächliche Arbeitslosenquote zwischen 2000 und 2007 3-4%-Punkte unter der NAIRU – DiaEx5.2.7, während die Inflationsrate zwischen 2000 und 2004 zwischen 3% und 6% und in den Jahren 2005 und 2007 unter 3% lag: von galoppierender Inflation konnte nicht die Rede sein.


Was auch immer die NAIRU ausdrückt: Eine Schwelle, unter der die Arbeitslosenquote von sich beschleunigender Inflation begleitet wird, stellt sie nicht dar.


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