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EXKURS 6.1. Finanzkrise und Konjunkturprogramme in Deutschland 2008/09


1. Die deutschen Konjunkturprogramme

Das Konjunkturprogramm der Bundesregierung von 2008 (Pakete 1 und 2) für die Jahre 2009/10 bestand aus:

  • Bereitstellungen von 600 Mrd. Euro zur Abschirmung der Privatwirtschaft, die erst bei Bedarf abfließen sollten, sowie
  • die 100 Milliarden Euro umfassenden Konjunkturpakete zur Sicherung von Nachfrage und Beschäftigung, insb.
    • Investitionen: Infrastrukturprogramm im Volumen von rund 17,3 Milliarden Euro;
    • 5 Milliarden Euro zur Förderung von Neuwagenkäufen durch eine „Abwrackprämie“;
    • Förderung von Kurzarbeit durch die Bundesagentur für Arbeit (BA).
  • Im November 2009 hat die neu gewählte Bundesregierung ein weiteres Konjunkturpaket von 33 Milliarden Euros beschlossen, um Wachstumshemmnisse zu beseitigen und Bürger und Unternehmen zu entlasten.


2. Beobachtung des Krisenverlaufs in Deutschland

Im August 2008 setzte der weltweite Kurseinbruch der Aktien ein, im September begann die EZB mit ihren Zinssenkungen, im Oktober sanken in Deutschland wie weltweit die Exporte um 10 %, bis Februar 2008 um 20%. Dieser plötzliche Zusammenbruch des Welthandels resultierte offensichtlich nicht aus einem Nachfrageschock, sondern aus einer weltweiten Klemme der Handelskredite – Umschlag der Finanzkrise in eine Handelskrise.


Der Wirtschaftsabschwung wurde geprägt vom Produzierenden Gewerbe, von Handel und Verkehr und von Unternehmensdienstleistungen (DiaEx6.1.1). In % des realen BIP sanken die Exporte im 4. Quartal 2008 um 4,1% und im 1. Quartal 2009 um weitere 5,1%, gefolgt von einem Rückgang der privaten Investitionen. Der private Konsum blieb in der Krise, abgesehen von den PKW-Käufen, nahezu unberührt. Der Staatsbeitrag nahm zu (DiaEx6.1.2).


Auffällig ist die geringe Zunahme der Arbeitslosigkeit in der Krise, was sich in erheblichem Maße durch die staatlich geförderte Kurzarbeit erklärt – siehe DiaEx6.1.3. Allerdings sind 2009 auch viele neue Arbeitsplätze entstanden, insb. im Bereich der privaten und öffentlichen Dienstleister.


3. Besonderheiten dieser Konjunkturprogramme

Der klassische Teil des Konjunkturprogrammes war das Investitionsprogramm: 17,7 Milliarden Euro, die nachweisbar zusätzlich ausgegeben werden sollten. Das wären pro Jahr 0,36% des BIP gewesen – viel zu wenig, um der Krise ernsthaft begegnen zu können. Insgesamt bestätigte sich die Erfahrung aus den 60er-Jahren, dass unvorbereitete öffentliche Infrastrukturprogramme bis zu ihrer volkswirtschaftlichen Wirksamkeit ein bis zwei Jahre Umsetzungsfrist benötigen. Sie eignen sich also nicht für eine akute Krisenbekämpfung.


Unter dem Titel Abwrackprämie erhielten Neuwagenkäufer vom Staat 2.500 Euro, wenn sie einen mindestens neun Jahre alten Wagen abmeldeten und gleichzeitig einen Neuwagen anschafften. Eine grobe Abrechnung ergibt:

  • Insgesamt gab der Staat 5 Mrd. Euro für 2 Mio. geförderte Autos aus.
  • 2008 hatte es 3,1 Mio. Neuzulassungen gegeben, 2009 waren es 3,8 Mio. Somit betrug die Zunahme der Neuzulassungen im Krisenjahr wenigstens 720.000, dh: wenigstens 720.000 zusätzlich stillgelegte ältere Autos.
  • Der Umsatz für Neuwagen betrug 2009 73 Mrd. Euro. Der Anteil der Käufe mit Abwrackprämie daran machte ca. 14 Mrd. Euro aus. Dies entspricht einem Wachstumsbeitrag von 0,6% des BIP. Die staatlichen Aufwendungen haben sich also bei 5 Mrd. Ausgaben und 14 Mrd. Wachstumsbeitrag mit einem Hebel von etwa 3 ausgewirkt.

Konjunkturpolitisch war die Abwrackprämie somit ein voller Erfolg. Wie sich diese Verjüngung und Modernisierung des deutschen PKW-Bestandes auf die Zahl der Neuzulassungen in den folgenden Jahren ausgewirkt hat, wissen wir nicht. Grundsätzlich handelt es sich um eine zeitliche Vorziehung von Wertschöpfungen aus der Zukunft zur Stabilisierung der gegenwärtigen Konjunktur.


Betrachtet man die Entwicklung der Beschäftigungszahlen im Jahre 2009, dann ist von der Krise wenig zu sehen: Bei einem Wachstumseinbruch von 5% ist die Zahl der Arbeitnehmer von September 2008 bis Dezember 2009 krisenbedingt um etwa 650 Tausend gesunken, das waren 2,4%. Der Krise folgend sind aber die Arbeitnehmerstunden gesunken – um 4%. Die Arbeitslosigkeit stieg während der Krise Mitte 2009 nur vorübergehend und nur um 150 Tausend an und ging dann bis Mitte 2010 auf den Stand vor der Krise zurück - siehe DiaEx6.1.3.


Einen wesentlichen Anteil daran, dass Deutschland in der Krise keine nennenswerte Zunahme der Arbeitslosigkeit erlebte, hatte die staatlichen Förderung der Kurzarbeit durch ein Kurzarbeitergeld zu Vermeidung von Entlassungen:

  • Wenn ein Arbeitgeber die Arbeit eines Arbeitnehmers verkürzte und dementsprechend dessen Lohn kürzte, dann übernahm die Bundesagentur für Arbeit (BA) 60-67% der Differenz des Nettolohnes.
  • Die Sozialbeiträge wurden 6 Monate lang zu 50% von der BA übernommen, danach voll.
  • Ferner förderte die BA die berufliche Weiterbildung der Kurzarbeiter.


Im Jahresdurchschnitt 2009 wurden 1,1 Millionen Kurzarbeiterstellen gefördert, in der Spitze 1,44 Millionen. Grob geschätzt entsprach eine Kurzarbeiterstelle 0,3 Vollzeitstellen. Sie ersparte also 0,7 Arbeitslose. Das waren wenigstens 800.000 Arbeitnehmer, die nicht arbeitslos wurden – bei ca. 3 Millionen Arbeitslosen Die Zahl der geleisteten und vom Arbeitgeber bezahlten Arbeitnehmerstunden ging dagegen, anders als die Zahl der Arbeitnehmer, bis Mitte 2009 entsprechend dem Kriseneinbruch des Wirtschaftswachstums um -4% zurück – siehe DiaEx6.1.4. Angesichts der Explosion der Arbeitslosigkeit, die der Finanzkrise in ganz Europa folge, ist dies ein eindrucksvoller Befund.


Das war ein völlig untypisches und in Europa einmaliges Verhalten der deutschen Arbeitgeber in der Krise: nicht zu entlassen, sondern die Arbeitszeit zu verringern. Den auslösenden Impuls lieferte die Förderung der Kurzarbeit durch die Bundesregierung. 50.000 Betriebe machten davon Gebrauch. Viele Betriebe nutzten dabei die tarifvertraglichen Regeln der Arbeitszeitflexibilisierungen, die das Arbeitszeitgesetz von 1994 ermöglicht hatte, sowie betriebliche Vereinbarungen. Aus den positiven Krisenerfahrungen mit diesen Arbeitszeitvariationen hat sich in den folgenden Jahren eine dauerhafte Praxis vieler deutschen Arbeitgeber entwickelt: nicht die Zahl der Beschäftigten mit der Konjunktur schwanken zu lassen, sondern die Zahl der Arbeitsstunden – siehe DiaEx6.1.3. Das ist der Kern dessen, was als „deutsches Jobwunder“ bezeichnet wird.


Erstaunlicherweise hat die deutsche Öffentlichkeit diese Vermeidung von Arbeitslosigkeit durch die staatliche Förderung von Kurzarbeit nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Die Trompeten blieben stumm – vielleicht spielt der Richtungswechsel der neuen Bundesregierung eine Rolle. Aber auch die öffentlichen Informationen der Bundesagentur für Arbeit – Finanzberichte – über die Kosten dieser Operation sind ausgesprochen mager. Und die Fachwelt beobachtete das staatliche Kurzarbeitsprogramm mit Skepsis. Die Experten der Gemeinschaftsdiagnose erwarteten 2009 für das kommende Jahr einen Rückgang der Kurzarbeit auf 260 Tausend, mit der Folge eines starken Beschäftigungsabbaus.


Tatsächlich ist die Kurzarbeit von 1,4 Millionen bis Ende 2010 auf 193 Tausend gesunken, aber ein Beschäftigungsabbau hat nicht stattgefunden. Auch die Wachstumsprognosen für 2010, die noch im Herbst 2009 vom Sachverständigenrat und von den deutschen Wirtschaftsforschungsinstituten für das Jahr 2010 abgegeben worden waren, haben diese Entwicklung des deutschen Wirtschaft erheblich unterschätzt.



4. Der Krisenverlauf in Deutschland und in der EU

Am deutschen Konjunkturprogramm waren die Steuereinnahmen, die Ausgaben des Gebietskörperschaften, die Sozialbeiträge und die Sozialausgaben aktiv beteiligt. Ein „passiver“ Defiziteffekt war nicht unterscheidbar. Das Defizit erreichte in der 2. Hälfte 2009 mit 4% über dem Vorkrisenniveau sein Maximum, und Mitte 2011 war es wieder abgebaut (DiaEx6.1.5). Die zusätzlichen Sozialausgaben dominierten diese Entwicklung, liefen aber schon Ende 2010 aus. Je ein Viertel trugen die Steuerrückgänge und die Ausgaben der Gebietskörperschaften zum Gesamtdefizit bei, deren Effekte während des Krisenverlaufs relativ konstant blieben. Die staatlichen Investitionen waren allerdings nur mit 0,2-0,3% des BIP beteiligt. Das waren 2009/10 zusammen etwa 13 Mrd. Euro – nach der Bundestagswahl 2009 war die Zusätzlichkeitsbedingung der Investitionsausgaben vom Bundestag entschärft worden.


Vergleicht man den Krisenverlauf in Deutschland und in der EU, dann zeigen sich bemerkenswerte Unterschiede (DiaEx6.1.6):

  • Der Wachstumseinbruch 2009 war in Deutschland mit -5,6% deutlich tiefer als in der EU28 mit -4,3%. Er war in Deutschland wie in der EU-28 bis 2011 wieder ausgeglichen. Seit 2011 verlief das Wachstum auf beiden Seiten sehr ähnlich.
  • In Deutschland stieg die Arbeitslosigkeit in der Krise nur wenig an und sank nach 2009 trendartig. In der EU lag sie 2008 mit 7,1% noch niedriger als in Deutschland. Aber danach stieg sie bis 2013 trendartig auf 11% an.
  • Das Defizit erreichte in Deutschland 2010 4,2%, in der EU28 6,4%. Aber während das Defizit in Deutschland 2012 abgebaut war, sank es in der EU28 nur langsam und lag 2012 noch bei 4,2%. Diese Defizit-Entwicklung ist in der EU, wie im Exkurs7.3 gezeigt wird, größtenteils auf die erhöhten Sozialausgaben im Gefolge der gewachsenen Arbeitslosigkeit zurückzuführen.


5. Fazit: Staatliche Krisenbekämpfung in Deutschland

Insgesamt war die Bekämpfung der Wirtschaftskrise durch die Wirtschaftspolitik in Deutschland im Jahre 2009 erfolgreich. Der drohende Zusammenbruch der Banken wurde ebenso verhindert wie prozyklische Reaktionen der Binnenwirtschaft. Als besonders erfolgreich hat sich die staatliche Förderung der Kurzarbeit erwiesen. Im übrigen bestätigt sich die Erfahrung aus den 60er Jahren, dass unvorbereitete öffentliche Infrastrukturprogramme bis zu ihrer volkswirtschaftlichen Wirksamkeit wenigstens ein bis zwei Jahre Umsetzungsfrist benötigen. Zur raschen Ankurbelung der Konjunktur eignen sie sich nicht.


Insgesamt ist Deutschland mit der Krise besser fertig geworden als die Mehrzahl der EU-Staaten.


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