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EXKURS 7.4. Die Deflation und die Anleihe-Kaufprogramme der EZB


Seit 2013 hat die EZB mehrere Programme zum Kauf von Wertpapieren auf dem Kapitalmarkt beschlossen und vor allem seit 2015 in großem Stil durchgeführt. Dabei wurden Pfandbriefe, forderungsbesicherte Wertpapiere, Staatsanleihen und Unternehmensanleihen im Volumen von 60 bis 80 Mrd. Euro pro Monat am offenen Markt aufgekauft. Nationale Quoten entfielen dabei auf die einzelnen nationalen Zentralbanken. Gekauft wurden nur Wertpapiere von guter Bonität. Bis Mai 2018 betrug der gesamte Wertpapierbestand der EZB 3.236 Mrd. Euro. Das waren 28% des BIP der EWU. Im Juni 2018 beschloss dann derRat EZB, diese Anleihekäufe zum Ende 2018 einzustellen.


Das Ziel dieser Programme war eine bessere Kreditversorgung der Wirtschaft. Damit sollte der Deflation in der EWU entgegengewirkt werden, die seit 2013 die wirtschaftliche Entwicklung kennzeichnete (DiaEx7.4.1), (DiaEx7.4.2). Als Deflation bezeichnet die EZB eine Inflationsrate unterhalb der angestrebten Stabilitätsmarke von 2%.


In normalen Zeiten beeinflussen die Zinssätze der EZB die Zinssätze des Geldmarktes. Der Zinssatz der EZB auf Hauptrefinanzierungsgeschäfte, Leitzins genannt, bildet quasi die garantierte Untergrenze der Zinsen auf dem Tagesgeldmarkt. Die EZB stellt den Banken billiges Zentralbankgeld zur Verfügung. Sie beeinflusst so die Inanspruchnahme zusätzlichen Zentralbankgeldes durch die Banken mit ihrem Leitzins. Senkt sie ihn, dann fördert sie die Bereitschaft der Banken, Kredite zu gewähren, und sie senkt damit tendenziell das Zinsniveau des Geldmarktes. Die EZB erhofft sich davon einen positiven Einfluss auf das Wirtschaftswachstum. Sind allerdings die Banken ausreichend liquide, dann haben sie auch kein Interesse an billigem Zentralbankgeld, und Änderungen des Leitzinses bleiben ohne Wirkungen. Hier setzt das Asset-Kaufprogramm der EZB ein: dem Kapitalmarkt wird Liquidität auf direktem Wege zugeführt.


Angesichts der geringen Zinssensibilität des Kapitalmarktes in Zeiten niedrigster Zinsen hat die EZB ihr geldpolitisches Schwergewicht auf direkte Geldmengensteuerung verlagert, insbes. durch „sonstige“ liquiditätszuführenden Aktionen. Zur Bekämpfung der Deflation forcierte die EZB nach dem Vorbild der amerikanischen FED ab 2015 den direkten Ankauf von Vermögenswerten, um dem Markt Liquidität zuzuführen – „quantitative easing“. Für diese Anlagekäufe auf dem offenen Markt nannte die EZB zwei Hauptgründe:

  • Einerseits würden sinkende Preise eine Spirale von sinkender Nachfrage und sinkender Beschäftigung in Gang setzen, nicht zuletzt, weil die mangelnde Abwärtsflexibilität der Löhne das Gewicht der Lohnstückkosten steigen lasse.
  • Andererseits würde sich eine Verfestigung der Deflationserwartungen lähmend auf die wirtschaftliche Dynamik auswirken: die Wirtschaft würde sich auf sinkende Nachfrage einstellen. Dem gegenüber würde die Bereitschaft und nachgewiesene Fähigkeit der EZB, ihr Inflationsziel von 2% durchzusetzen, das Vertrauen der Unternehmen in die Steuerungsfähigkeit der EZB stärken.

Die EZB geht also davon aus, dass ihr „quantitative easing“ der Deflation entgegenwirkt.


Insbesondere in Deutschland stieß diese Politik der EZB auf wachsende Kritik. Die Bundesbank stand ihr mit erkennbarer Skepsis gegenüber. Die Finanzwelt interpretierte die Politik der EZB als Zinssenkungsprogramm, das die erhoffte Zinswende nach oben verhinderte.


Seit Beginn der Finanzkrise war der Geldmarkt in der EU durch eine hohe Liquiditätspräferenz der Geldbesitzer gekennzeichnet. Was bedeutet hohe Liquiditätspräferenz? – Die sog. Geldmenge M3 ist der liquide Teil der Einlagen bei Banken mit einer Laufzeit bis 2 Jahren oder einer Kündigungsfrist bis 3 Monaten. Sie bildet den Teil der Geldvermögen von Nichtbanken bei Banken, der für ihre Besitzer relativ rasch verfügbar ist. Diese Liquidität bedeutet aber nicht, dass der Wirtschaft reichlich Kredite zur Verfügung stehen. Im Gegenteil: Die Ansammlung großer Mengen an kurzfristigen Bankeinlagen zeigt an, dass die Geldbesitzer es momentan vorziehen, ihr Geld nicht längerfristig anzulegen. Sie haben eine hohe Liquiditätspräferenz. Als „Liquiditätsfalle“ bezeichnete Keynes dieses Phänomen. Es bedeutet für die Investoren eine Verknappung der Kredite.


Wie unter Kap.7.9.3 dargestellt, war seit 2011 diesbezüglich eine besorgniserregende Entwicklung zu beobachten: Im Bankensystem Deutschlands wuchsder Anteil der liquiden Einlagen von Nichtbanken am gesamten Geldvermögen auf Kosten der nicht-liquiden Einlagen von Ende 2011 bis Ende 2017 stetig an – Dia7.9.4 :


                                                          2011                      2017                    Veränderung

    liquide Einlagen                         7,2%                     8,7%                    +1,5%-Punkte

    nicht-liquide Einlagen               5,6%                     3,7%                     -2,1%-Punkte


Diese Verringerung der nicht-liquiden Einlagen bei Banken vollzog sich vor dem Hintergrund nachhaltig sinkender Zinsen. Zwischen Dezember 2012 und Mai 2018 fielen in der EWU

  • der langfristige Marktzins (Maastricht-Definition) von 3,08% auf 1,08%,
  • der kurzfristige Marktzins (Tagesgeld) von +0,07% auf -0,36%,
  • während die EZB ihren Hauptrefinanzierungssatz in Schritten von +1,0% auf 0% gesenkt hat.

All das bedeutete, dass viele Geldbesitzer es angesichts marginaler Zinsen vorzogen, ihr Geld liquide zu halten.


Anfang 2013 begann in der EU die Deflationsphase. Die Inflationsrate sank unter die Wunschgrenze von 2%, zeitweise sogar unter Null. Sinkende Preise sind Ausdruck fehlender Nachfrage. In der Theorie ziehen sie eine Drosselung der Produktion und eine Erhöhung der Arbeitslosigkeit nach sich. Die tatsächliche Entwicklung der Realwirtschaft war komplizierter: Energiepreissenkungen überlagerten die Zusammenhänge.


Seit Anfang 2013 lag die Inflationsrate der harmonisierten Verbraucherpreise in der EWU unter der Zielmarke der EZB von 2%. An dieser Verringerung der Inflation waren jedoch Senkungen der Energiepreise wesentlich beteiligt. Senkungen der Energiepreise haben im Rahmen der Wirtschaftsentwicklung eine grundsätzlich andere Bedeutung als Senkungen der Preise der inländischen Produktion. Energiepreissenkungen setzen Binnenkaufkraft frei für zusätzliche Nachfrage und erhöhen dadurch das BIP und die Beschäftigung. Preissenkungen im Inland signalisieren dem gegenüber Nachfrageschwäche. Von Deflation im strengen Sinn wird deshalb gesprochen, wenn die Rate der Kerninflation unter 2% sinkt: die um die Effekte von Preisen für Energie und saisonale Lebensmittel bereinigte Inflationsrate.


Folgende Entwicklungen der Inflationsraten waren in der EWU zu beobachten (DiaEx7.4.4):

  • Die Rate der Verbraucherinflation sank von 2% Anfang 2013 auf minus 0,3% Anfang 2015, verharrte bei 0% bis Mitte 2016, um dann bis Anfang 2017 auf 1,8% anzusteigen. Seitdem bewegte sie sich zwischen 1,3% und 2,1%.
  • Die Phase der konjunkturfördernden Energiepreissenkungen dauerte von Ende 2013 bis Ende 2016.
  • Die Rate der Kerninflation sank von 2% Anfang 2012 auf 0,6% im Mai 2014 und verharrte dann bis Anfang 2017 zwischen 0,7% und 0,9%. Seitdem bewegte sie sich zwischen 1,1% und 1,3%.
  • In den Augen der EZB ist die Deflationsphase Ende 2018 zu Ende gegangen.


Die tatsächliche Deflationsphase begann also Anfang 2013, das intensive Kaufprogramm der EZB Ende 2014. Die realwirtschaftliche Entwicklung in der EWU zeigte demgegenüber folgendes Bild:

  • Im 1. Quartal 2013 schwächte sich die Rezession der Wachstumsrate von -1,2% auf 0% ab, und die Arbeitslosenquote lag bei 11, 5%.
  • Bis Anfang 2014 erholte sich die Wachstumsrate auf +1,5%, die Arbeitslosenquote lag bei 12%.
  • Zwischen Sommer 2014 und November 2016 haben die sinkenden Energiepreise der Binnenkaufkraft, dem BIP-Wachstum und der Beschäftigung starken Auftrieb gegeben. Von Anfang 2014 bis Mitte 2015 stieg die Wachstumsrate auf 2,0%, die Arbeitslosenquote senkte sich auf 11%.
  • Bis zum 4. Quartal 2016, dem Ende der Energiepreissenkungen, bewegte sich das Wirtschaftswachstum knapp unter 2%, und die Arbeitslosenquote sank auf 9,7%. Somit könnten die möglichen ökonomischen Effekte der Deflation in den Jahre 2013 bis 2016 von den Wirkungen der Energiepreissenkung überlagert worden sein.
  • Ab Anfang 2017 schwankte die Wachstumsrate bis Anfang 2018 zwischen +2,1% und +2,8%, und die Arbeitslosenquote sank weiter auf 8,6% - trotz anhaltender Deflation und bei gleichzeitiger Liquiditätszuführung      über den Offenen Markt.


Angesichts eines absehbaren Endes der Deflation entschied der EZB-Rat im Juni 2018, diese Anleihekäufe bis zum Ende 2018 einzustellen. Die EZB rechnete für 2018, 2019 und 2020 mit einem jahresdurchschnittlichen Anstieg des Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) von jeweils 1,7%. Bei der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Euro-Raum wurde für 2018 ein Wachstum von real 2,1% erwartet, für 2019 von 1,9% und für 2020 von 1,7%.


Welche Wirkungen dies Anleihe-Kaufprogramm der EZB auf den Geldmarkt und auf die reale Wirtschaft gehabt hat, lässt sich nicht erkennen. Die Meinungen der Fachwelt gehen auseinander, wobei für diese Fachwelt die Gesichtspunkte des Geldmarktes im Vordergrund stehen. Und auch die Wirkungen der Einstellung des Programms sind noch unklar.


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