8.7. Reformen der EU
8.7.1. Demokratiedefizit
Die EU-Verträge bilden eine demokratische Verfassung der EU. Das Europäische Parlament und der Ministerrat entscheiden gleichberechtigt über Gesetze. Nur in wenigen Bereichen sind die Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments ungenügend, z.B. im Bereich der Gemeinsamen Handelspolitik.
Aber zur Demokratie gehört auch eine funktionierende Öffentlichkeit. Der europäischen Demokratie fehlt es an Öffentlichkeit. Die Verfassung der Europäischen Union ist erkennbar dem deutschen Bundesrat nachgebildet, und die Willensbildung des Ministerrates ist ähnlich intransparent wie die des Bundesrates.
Der Ministerrat prägt die nationale Berichterstattung über die Gesetzgebung der EU. Nach einer wichtigen Ratsentscheidung gibt es 28 nationale Pressekonferenzen:
Die heute vorherrschende Berichterstattung über Europa ist eine Berichterstattung aus Brüssel oder aus Straßburg. Eine Berichterstattung aus Europa aber würde auch die Probleme, Standpunkte und Argumente „der Anderen“ vermitteln, die zur demokratischen Meinungsbildung gehören.
Als Demokratiedefizit wird auch die Einigungsunfähigkeit des Europäischen Rates interpretiert. Das aber ist ein Missverständnis. Der Europäische Rat hat keine gesetzgeberischen Aufgaben und Befugnisse. Er „entscheidet im Konsens“ bzw. einstimmig. Er sucht Einvernehmen zwischen den Mitgliedstaaten in allen Angelegenheiten, in denen die demokratischen Organe der EU nicht entscheidungsbefugt sind. Sein einziges demokratisches Entscheidungsrecht ist sein Vorschlagsrechts gegenüber dem Europäischen Parlament zur Wahl des Kommissionspräsidenten, das er mit qualifizierter Mehrheit ausübt.
Einstimmigkeit bedeutet, wie die Geschichte vielfach gelehrt hat, Entscheidungsunfähigkeit. Einstimmigkeit ist das Gegenteil von Demokratie. Dieser Zwang zur Einstimmigkeit des Europäischen Rates verhindert demokratische Entscheidungen in allen Angelegenheiten, in denen die Europäer gemeinsame Entscheidungen für notwendig halten, für die die Europäische Union aber nicht zuständig ist. Es ist das Nicht-Europa, dessen Versagen Europäer wie Anti-Europäer beklagen. Die Übertragungen der Zuständigkeit auf die EU in all diesen Angelegenheiten, deren Nichtregelung die Europäer beklagen, ist ein dringliches Reformziel.
8.7.2. Finanzen
Wenn man realistische Reformziele der EU-Finanzen formulieren will, muss man eine Grundtatsache kennen:
Gleichwohl sollte die EU wenigstens 2% des BIP als Haushaltsziel anstreben.
Als neu konkretisierten Schwerpunkt der EU-Politik wäre die oben beschriebene (Kap.8.3) Bekämpfung der regionalen Arbeitslosigkeit eine Antwort auf das dinglichste Problem des Binnenmarktes.
Über dieses sehr begrenzte Haushaltsvolumen hinaus sollte sich die Haushaltspolitik darauf konzentrieren, in intelligenter Weise erwünschte Zahlungen Dritter zu veranlassen:
Insgesamt ist das Budgetrecht der EU vernünftig geregelt:
Die Defizitregeln der EWU in der Fassung von 2011 sind sinnvoll und angemessen. Aktive Haushaltsdefizite der EU sind nur in Krisensituationen notwendig. Ein wichtiges Ziel ist, dass die Mitgliedstaaten keine Schuldenquote von über 60% haben, damit sie auch in Krisensituationen auf dem Kapitalmarkt handlungsfähig sind (vgl. Kap.6.6.1) .
Dass die Anleihezinsen auch von Staaten mit stabilen Finanzen erheblich differieren, ist für die Währungsunion ein Problem. Die föderale Finanzverfassung Deutschlands bietet hier ein aufschlussreiches Bild (vgl. Exkurs 6.3):
Die Anleihen von Bund und einzelnen Bundesländern haben bei der Ratingagentur Fitch grundsätzlich das gleiche Rating: AAA. Fitch begründet dies mit der gegenseitigen Solidaritätspflicht von Bund und Ländern gemäß dem deutschen Grundgesetz.
Dagegen musste Spanien 2017 +1%-Punkt mehr Anleihezinsen bezahlen als Deutschland, Portugal +1,4%-Punkte mehr, Italien +1,8%-Punkte mehr und Griechenland +3,8%-Punkte mehr, obwohl die EWU-Staaten demonstriert haben, dass alle Mitgliedstaaten im Notfall effektiv unter dem Schutz eines Rettungsschirmes stehen werden. Wie ist das zu erklären?
Die Unterschiede der Marktzinsen drücken das unterschiedliche Verlustrisiko der nationalen Anleihen aus. Da in der EWU eine nationale Zahlungsunfähigkeit praktisch ausgeschlossen ist, bleibt nur das Risiko eines internationalen Schuldenschnitts, vor dem sich die Anleger fürchten. Die Mitgliedstaaten haben, abgesehen von einer kleineren Rate, Griechenland den geforderten Schuldenschnitt verweigert. Denn nach einem griechischen Schuldenschnitt wären andere Länder mit hohen Schuldenquoten zu potentiellen Kandidaten eines nächsten Schuldenschnitts geworden, was deren Zinsen zusätzlich verteuert hätte. Aber diese Verweigerung eines Schuldenschnitts war hoch umstritten (vgl. Exkurs7.3).
Um diese Zinsdifferenzen in der Währungsunion abzubauen, würde folgendes helfen:
Solange Mitgliedstaaten das Recht haben, unbegrenzt Schulden zu machen, kann die Gemeinschaft für diese Schulden keine Haftung übernehmen. Wenn ein Mitgliedstaat mit hoher Schuldenquote aber bereit wäre, seine Kapitalmarktfinanzierung in die Hände der Gemeinschaft der Euro-Staaten zu legen, dann könnten der Zinsvorteil von Gemeinschaftsanleihen zur Reduzierung seiner Schuldenquote genutzt werden.
An den Rettungsschirmen sind während der Finanzkrise strukturelle Defizite deutlich geworden, die zu Reformen Anlass geben. Wichtig ist nach den negativen Erfahrungen mit der Troika eine Demokratisierung des Verfahrens: eine Überführung der Euro-Gruppe in die demokratische Ordnung der EU im Sinne der Verstärkten Zusammenarbeit. Die unvermeidlichen Kontroversen, die mit einer solchen Nothilfe verbunden sind, müssen öffentlich ausgetragen werden.
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