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Kap. 1. Einführung


Dieses Buch enthält eine Beschreibung der deutschen Volkswirtschaft in einer für wirtschaftspolitisch interessierte Laien verständlichen Sprache,

  • um ein Gesamtbild zu zeigen,
  • auf empirischer Grundlage der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR),
  • mit Blick auf die Geldkreisläufe der Volkswirtschaft,
  • aus europäischer Sicht.


Aus europäischer Sicht bedeutet zweierlei:

  • Wie die deutsche Wirtschaft von außen verstanden werden kann, aber auch
  • welche Rolle sie in der Wirtschaft der Europäischen Union spielt.



1.1. Zur Methode


Die Beschreibung auf der Grundlage der Volkswirtschaftlichen Gesamt-rechnung zielt darauf ab, aufgrund von Statistiken die ökonomische Realität darzustellen. Dieser ungewöhnliche Ansatz bedarf einer Erklärung.


Im klassischen Wissenschaftsverständnis gibt es eine klare Unterscheidung zwischen Theorie und Empirie: Theorien sind Vermutungen über die Wirklichkeit, die erst dann als real, als der Wirklichkeit entsprechend gelten, wenn sie empirisch belegt sind. Anders ist dies in den Wirtschaftswissenschaften: Theorien gelten hier als anerkannt, wenn die Fachwissenschaftler ihnen überwiegend zustimmen. Auffällig insbesondere im Bereich der sogenannten Makroökonomie sind theoretische Meinungs- verschiedenheiten zwischen Mehrheitsmeinungen Minderheitsmeinungen, die in der Öffentlichkeit politischen Lagern zugeordnet werden. Es fehlen in den Wirtschaftswissenschaften systematische Kriterien für die Unterscheidung von richtig und falsch.


Diese Besonderheit der Wirtschaftswissenschaften hat eine Ursache: den Datenmangel in Bezug auf die wirtschaftlichen Phänomene, die einer Erklärung bedurften. Entstanden sind die volkswirtschaftlichen Theorien aus Beobachtungen von Kaufleuten, ihnen nahestehenden Gelehrten und fürstlichen Beratern. Ein Beispiel aus der frühen Neuzeit: Als Folgen der Erbeutung riesigen Mengen südamerikanischen Goldes und Silbers durch Spanien wurden unerwarteteWirkungen beobachtet, die zu denken gaben: einerseits eine Inflation in Spanien, andererseits ein spanischer Importüberschuss zulasten der spanischen Produktion, der große Teile der Edelmetalle in die Nachbarländer fließen ließ. Solche Phänomene wollten Kaufleute und Staatenlenker erklärt wissen.


Über Jahrhunderte entwickelte sich die Nationalökonomie als ein theoretisches Lehrgebäude, das die beobachteten Phänome erklärt, dem aber weitgehend die empirische Prüfung fehlt. Im Laufe der Zeit ist der grundsätzliche Zweifel, der gegenüber Theorien angebracht ist, in den Hintergrund getreten, und die Theorien haben sich zu Tatsachen verdichtet.


Spät erst, nach dem 2. Weltkrieg, ist dem ökonomischen Datenmangel durch wachsende Datensammlungen abgeholfen worden. Die Staaten, voran die USA, installierten Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, deren Lücken nach und nach gefüllt wurden. Doch wesentliche Folgen hat dies für die Volkswirtschaftslehre nicht gehabt. Die langen Datenreihen der Statistikämter waren in Zeitschriften nachzulesen, und zur statistischen Verarbeitung der Daten, die Wurzelrechnungen erforderte, standen den Wissenschaftlern lange Zeit nur Rechenschieber zur Verfügung. Die aufkommenden Rechenzentren waren schwer zugänglich. Für Wissenschaftler verwendbare PCs gibt es erst seit der Mitte der 90er Jahre. – So lange blieben volkswirtschaftliche Theorien empirisch schwer überprüfbar.


In den 90er-Jahren haben im Gebiet der ökonomischen Empirie jedoch drei Revolutionen stattgefunden, die inzwischen jedem Fachkundigen eine empirische Theoriekritik möglich gemacht haben:

  • In Deutschland wurden die gesamten Datenbestände des Statistischen Bundesamts, der Bundesbank und des Statistischen Amtes der Europäischen Union (EUROSTAT) zunächst auf CDs und wenig später über das Internet jedermann leicht verfügbar gemacht.
  • Statistikprogramme zur wissenschaftlichen Verarbeitung solcher Daten auf PCs wurden entwickelt und von den Hochschulen zur Verfügung gestellt.
  • Zu den herkömmlichen Jahresstatistiken traten Vierteljahresstatistiken.


Ein Beispiel verdeutlicht die Bedeutung der Vierteljahresstatistiken. In den 90er Jahren wurde in deutschen Fachkreisen über die Frage gestritten, um wie viel Prozent die Beschäftigung wachsen würde, wenn die Löhne um 1% gesenkt würden: die Lohnelastizität der Beschäftigung.


Eine korrekte empirische Untersuchung dieser Frage auf der Basis von Zeitreihen musste den Zusammenhang zwischen Beschäftigung und Löhnen berechnen. Um aufgrund differenzierter statistischer Berechnungen signifikante Ergebnisse zu erhalten, brauchte man Zeitreihen von 20 bis 30 Gliedern. Auf der Basis von Jahreszahlen lautete die Aussage von Gebhard Flaig und Horst Rottmann in einer Veröffentlichung aus dem Jahre 2004 (Note1.1.1): In der Zeit von 1968 bis 1994 bestand in der westdeutschen Industrie eine Elastizität des Arbeitsvolumens in Bezug auf den Reallohn kurzfristig von -0,17 und langfristig von -0,37. Mit anderen Worten: Im Durchschnitt der Jahre 1968 bis 1994 “bewirkte” eine Senkung der Reallöhne um 1% kurzfristig eine Vermehrung der Beschäftigung um 0,17%. Das ist ein Durchschnitt aus 26 Jahren deutscher Wirtschaftsentwicklung vom Ende der Ära Ludwig Erhard bis nach der deutschen Vereinigung. Über die Gegenwart im Zeitpunkt der Veröffentlichung sagte dieses Ergebnis nichts aus.


Seit 1991 veröffentlicht das Statistische Bundesamt Vierteljahresstatistiken mit 4 Daten pro Jahr. Auf der Grundlage solcher Zeitreihen sind entsprechende Untersuchungen über einen Zeitraum von nur 7 Jahren möglich geworden. Die Forschungsergebnisse wurden dadurch deutlich näher an die Realität der Gegenwart gebracht.


In den letzten Jahrzehnten wurden die immer reichhaltigeren Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung in vielfältiger Weise für die Wirtschaftswissenschaften erschlossen. Aber eine systematische Überprüfung der ökonomischen Theorien hat nicht stattgefunden. Charakteristisch sind die großen ökonomischen Simulatoren: EDV-Systeme, die versuchen, die Dynamik der ökonomischen Realität einzelner Länder auf der Grundlage der statistischen Daten abzubilden. Dabei werden den Simulatoren theoretisch begründete Zusammenhänge als Annahmen vorgegeben. Unterschiedliche Annahmen determinieren unterschiedliche Simulationen der Realität. Auf gleiche ökonomische Fragen liefern unterschiedliche Simulatoren unterschiedliche Antworten. Dem entsprechend konkurrieren einzelne Simulatoren mit einander um die Anerkennung ihrer Resultate. Auch daran wird der Mangel eines Wahrheitskriteriums in der Ökonomie offenbar.


In diesem Buch verzichte ich auf theoretische Argumentationen. Ich beschränke mich auf die Feststellung von empirisch geprüften Tatsachen. Auf diese Weise versuche ich es, die deutsche Volkswirtschaft und ihre Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten zu beschreiben. Dabei nehme ich besonders die vorherrschenden Vorstellungen über wirtschaftspolitische Zusammenhänge in den Blick.


Bei den empirischen Beobachtungen verfolgt unsere Darstellung eine besondere analytische Spur: den ökonomischen Geldkreislauf. Entsprechend der privatwirtschaftlichen Wirtschaftslogik wird Geld ausgegeben, um Geld zu verdienen. Die Geldströme bilden Kreisläufe, die sich ständig wiederholen. Diese regelmäßigen Wiederholungen im gesamtwirtschaftlichen Ablauf erlauben es uns, relativ stabile Regelhaftigkeiten in „der Wirtschaft“ zu beobachten und kausale Wirkungszusammenhänge festzustellen, die politisch wichtig sind: vor allem jene, von denen die Entwicklungen von Einkommen und Beschäftigung abhängen.


Ein in unserer Volkswirtschaft dominierendes Beispiel ist der private Konsum mit einem Volumen von mehr als 50% des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Er ist Teil eines Geldkreislaufes:

  • Unternehmen kaufen Vorprodukte und bezahlen Arbeitnehmerentgelte;
  • die Arbeitnehmerentgelte fließen den privaten Haushalten zu;
  • dazu kommen Renten, Pensionen und Sozialleistungen;
  • die Unternehmer teilen Gewinneinkommen an private Haushalte aus;
  • aus diesen verfügbaren Einkommen bezahlen die privaten Haushalte ihre         Konsumaufwendungen,
  • wobei sie einen relativ festen Anteil als Ersparnis behalten;
  • die Bezahlung des Konsums fließt an die Unternehmungen zurück.


Alle diese Geldströme vollziehen sich in Wirklichkeit zwischen Konten von Banken. Zur Veranschaulichung unsers Beispiels stellen wir uns ein vereinfachtes Gesamtkonto aller Banken des Landes vor, in dem die Bestände aller Konten aller Banken zusammengefasst sind. In diesem Gesamtkonto sind

  • alle Guthaben der Kunden gleich groß wie alle Verbindlichkeiten der Banken, und
  • alle Verbindlichkeiten der Kunden gleich groß wie alle Forderungen der Banken.

Insgesamt sind alle Forderungen gleich groß wie alle Verbindlichkeiten.

Deshalb ist die Gesamtsumme aller Kontostände auf diesem Gesamtkonto zu jedem Zeitpunkt Null!


Und nun unterteilen wir diese Konten in zwei Gruppenkonten:

  • Ein Konto mit allen Beständen der Einkommenskonten aller privaten Haushalte einerseits und
  • ein Konto für alle übrigen Konten andererseits,
  • mit der Konsequenz: die positiven Kontostände aller privaten Haushalte sind stets gleich groß wie die negativen Stände aller übrigen Konten.


Den Kern dieses Konsumkreislaufes stellt der Zusammenhang zwischen Verfügbarem Einkommen und Konsum der privaten Haushalte dar. Er entspricht dem monatlichen Spiel von Einkommen und Konsumausgaben in der Entwicklung eines typischen Girokontos eines Arbeitnehmerhaushalts: an einem Tag, in der Regel am letzten eines Monats, trifft das Gehalt ein und füllt schlagartig das Konto auf. Abgesehen von regelmäßigen Einmalzahlungen – Miete usw. – fließt dieses Geld zur Begleichung der laufenden Ausgaben bis zum Monatsende relativ stetig wieder ab. Die verbleibende Ersparnis weisen wir einem Sparkonto zu. Am Monatsende steht das Gehaltskonto wieder auf Null - bis das nächste Gehalt eintrifft.


Auch die Selbständigen überweisen regelmäßig Gewinneinkommen auf ihre Haushaltskonten. Die Gesamtheit aller Bezieher von regelmäßigen Gehältern, Renten, Pensionen und Gewinneinkommen in Deutschland empfangen so Monat für Monat etwa 140 Mrd. € (2016) auf ihren Konten – netto, die Steuern sind in der Regel schon abgezogen - , um sie durch Käufe von Gütern und Dienstleistungen oder durch Sparleistungen im Laufe des Monats wieder auszugeben. Sie konsumieren in der Regel 93% ihrer verfügbaren Einkommen, sparen also 7% (Note1.1.2). Für ihren Konsum kaufen sie 56% des BIP. Aufgrund von langjährigen Beobachtungen können wir feststellen, dass sich die Sparneigung der privaten Haushalte wenig ändert. Wir können also davon ausgehen, dass der Anteil an den Masseneinkommen, der zum Kauf von Konsumgütern und Dienstleistungen verwendet wird, relativ konstant ist.


Wohlverstanden: Wir betrachten hier nur das Geld. Unternehmen bezahlen ihre Vorleistungen häufig mit geliehenem Geld - Dispo-Kredit.


Wir stellen uns nun vor, wie sich dieser Geldkreislauf von Tag zu Tag auf unseren beiden Gesamtkonten abbildet. Unser sehr vereinfachtes Diagramm Dia1.1 veranschaulicht diesen Kreislauf: Jeden Monat überweisen die Arbeitgeber, Pensions- und Rentenkassen sowie Selbständigen kurz vor Monatsanfang Geld auf die Haushaltskonten. Nach den fälligen Monatszahlungen fließt dieses Geld im Verlauf des Monats stetig als Zahlungen an die Gesamtheit der übrigen Konten zurück. Damit werden die Käufe der Konsumgüter sowie die neuen Ersparnisse bezahlt.Am Monatsende sind die Stände der beiden Gesamtkonten Null.


Das zweite Diagramm Dia1.2 zeigt den Fall einer Erhöhung des Verfügbaren Einkommens (rot). Auch das erhöhte Einkommen wird bis zum Monatsende vollständig ausgegeben. Bei konstanter Sparneigung wachsen die Konsumausgaben proportional. Trotz erhöhter Einkommen sind auf beiden Konten die Stände am Monatsende null.


Wenn man nur das Geld betrachtet, dann könnte man den Kreislauf auch so sehen: Die Zahler von Gehältern, Pensionen und Renten sowie von privaten Gewinneinkommen leihen sich bei den Banken Geld, um es an die Haushaltskonten zu überweisen, von wo es im Laufe des Monats über Konsumkäufe und Ersparnisse zurückfließt. Dabei werden die kurzfristigen Kredite wieder getilgt.


Es liegt auf der Hand: Je mehr Arbeitnehmerentgelte die Unternehmen bezahlen, desto mehr Produkte werden verkauft. Warum wächst die Produktion dann nicht ständig? – Weil die Unternehmungen ihre Produktion nur ausdehnen, wenn dies mit ausreichenden Gewinnen verbunden ist. Wir werden diese Zusammenhänge im Kap. 5 prüfen.


Die Geldkreisläufe der Produktion haben eine Lücke: Die Ersparnis fehlt bei der Bezahlung der Produkte. Dieses Geld fließt über Banken und Kapitalmarkt letztendlich Unternehmen zu, die damit Investitionsgüter kaufen, welche ebenfalls im Produktionsprozess vorfinanziert, erzeugt und verkauft werden. Aus dem Kapitalmarkt fließt das Geld in den Geldkreislauf der Investitionen – wenn alles gut geht.


Die Pumpe der Geldkreisläufe treibt die Güterproduktion. An ihrem Anfang steht die Entscheidung der Arbeitgeber über die Höhe ihrer Ausgaben für Vorleistungen, Entgelte und Investitionen, die eng verknüpft ist mit ihrer Entscheidung über ihre Produktion. Das materielle Resultat ist die Erzeugung und der Verbrauch der Konsumgüter und die Anschaffung von Investitionsgütern. Das wirtschaftliche Resultat offenbart sich in der Abrechnung der Unternehmungen.


Diese Geldströme bilden ein System von Kreisläufen, die sich ständig wiederholen. Die regelmäßigen Wiederholungen in den gesamtwirtschaftlichen Geldkreisläufen erlauben es uns, relativ stabile Regelhaftigkeiten in „der Wirtschaft“ und in ihrer Entwicklung festzustellen. Gleichwohl entwickelt sich dieser Zusammenhang unaufhaltsam weiter, was uns zwingt, unsere Beobachtung von wirtschaftlichen Zusammenhängen immer wieder zu überprüfen.


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