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5.7. Wachstum, Gewinne und Arbeitnehmerentgelte im Konjunktur-zusammenhang


Die Konjunktur wird durch Schwankungen der jährlichen Wachstumsrate charakterisiert. Im Aufschwung vergrößert sich diese Wachstumsrate bis zu einem Höhepunkt, danach verringert sie sich im Abschwung bis zu einem Tiefpunkt.


Man kann solche Konjunkturschwankungen als Störungen der Wirtschaftsentwicklung interpretieren. Die deutsche Wirtschaftspolitik hält möglichst geringe Konjunkturschwankungen für wünschenswert. Im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz der Bundesrepublik von 1967 wird als eines der vier Hauptziele der Wirtschaftspolitik genannt: ein stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum. Die EU formuliert in dem Vertrag über die Europäische Union das Ziel eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums. (Note5.7.1)


Es gibt eine lange Geschichte der Konjunkturtheorien mit vielfältigen Ansätzen zur Erklärung der Konjunkturschwankungen. Aber die Frage nach wirksamen Mitteln einer Wachstumsverstetigung ist ungeklärt. Auf der Basis unserer Quartalsdaten der VGR lassen sich jedoch bemerkenswerte Zusammenhänge der Konjunkturschwankungen erkennen.


Beispiel Deutschland

Zur Beobachtung der Konjunkturschwankungen nehmen wir die Wachstumsrate der nominalen Bruttowertschöpfung Deutschlands in % des Vorjahres als Maßstab – siehe Dia5.7.1. (Note5.7.2). Für Deutschland von 1991 bis 2017 machen wird 8 Hochpunkte und 7 Tiefpunkte aus. Im Tiefpunkt (T5) im 2. Quartal 2005 zum Beispiel betrug diese Wachstumsrate +0,7% (real+0,2%), im darauf folgenden Hochpunkt (H6) im 4. Quartal 2006 dagegen +5,5% (real +5,0%). Der tiefste Tiefpunkt nach 1991 lag im 1. Quartal 2009 (T6) bei -6,0% (real -7,4%), der höchste Hochpunkt im 1. Quartal 2011 (H7) bei +5,9% (real +5,1%).


Wir fügen bei der Beobachtung der Konjunkturzyklen nun die beiden Einkommensbestandteile hinzu: Arbeitnehmerentgelte einerseits und den Unternehmen verbleibende Bruttoresidualeinkommen andererseits. Als Bruttoresidualeinkommen definieren wir hier Bruttonationaleinkommen minus Arbeitnehmerentgelte. Es entspricht dem Unternehmensertrag vor Abrechnung der Abschreibungen und repräsentiert das Erfolgskriterium der Unternehmungen.


Da die Produktion von den Entscheidungen der Unternehmungen bestimmt wird, bedeutet die Erreichung eines solchen Hochpunktes, dass die Unternehmungen von nun an ihr Produktionswachstum drosseln. Würden sie das nicht tun, dann gäbe es keinen Abschwung, und das Resultat wäre eine stetige Wirtschaftsentwicklung. Warum drosselndie Unternehmungen jetzt das Produktionswachstum? – Schauen wir uns diese konjunkturellen Wendepunkte näher an.


2 der 8 Hochpunkte waren von einem Abschwung des Exports geprägt, und 3 der 7 Tiefpunkte von einem Aufschwung des Exports. Dies waren von außen kommende Einflüsse auf die deutsche Konjunktur, deren Respektierung durch die Unternehmungen plausibel ist. Daneben aber prägen die Bruttoresidualeinkommen die Wendepunkte:

  • In 7 der 8 Hochpunkte hatte auch die Wachstumsrate der Bruttoresidualeinkommen einen Hochpunkt, und in allen diesen Fällen überstieg diese Wachstumsrate die nominale Wachstumsrate der Bruttowertschöpfung deutlich, während die Entwicklung der Arbeitnehmerentgelte zurückblieb.
  • In 4 von 7 Tiefpunkten hatte auch die Wachstumsrate der Bruttoresidualeinkommen einen Tiefpunkt, in einem Tiefpunkt lief der Tiefpunkt der Bruttoresidualeinkommen um ein Quartal vor und in einem Tiefpunkt lief der Tiefpunkt der Bruttoresidualeinkommen um ein Quartal nach. In 4 Fällen war die Wachstumsrate der Residualeinkommen niedriger als die der Bruttowertschöpfung.


Wenn wir von den Einflüssen der Exportschwankungen auf die deutschen Konjunkturschwankungen absehen, dann können wir feststellen:

  • In den konjunkturellen Hochpunkten des Wirtschaftswachstums hatte die Wachstumsrate der Bruttoresidualeinkommen einen noch ausgeprägteren Hochpunkt,
  • und in den konjunkturellen Tiefpunkten des Wirtschaftswachstums hatte die Wachstumsrate der Bruttoresidualeinkommen einen noch ausgeprägteren Tiefpunkt.


Beispiel EU

Ähnliche Zusammenhänge zeigt die Konjunktur in der EU. Ein wesentlicher Unterschied der EU-Konjunktur zur deutschen ist allerdings: die Konjunktur der EU ist relativ frei von Außenhandelsschwankungen und kommt damit dem herkömmlichen Bild einer geschlossenen Volkswirtschaft näher.


Wir betrachten zuerst den Einfluss des Außenhandels in der EU28 auf die Konjunkturschwankungen:

  • Die Importe der Mitgliedstaaten sind, wie wir gesehen haben, in hohem Maß bestimmt durch deren Wirtschaftswachstum (Kap5.4.1)
  • Die Gesamtheit aller Exporte der Mitgliedstaaten in die EU ist definitionsgemäß gleich der Gesamtheit aller Importe der Mitgliedstaaten aus der EU. Dies ist der Binnenhandel.
  • Der Binnenhandel macht in der EU den größten Teil des Außenhandels aus. Deshalb hat der Außenhandelssaldo der EU als Differenz von Export und Import nur einen geringen störenden Einfluss auf das Wachstum in der EU. Die Wendepunkte von Import und von Export fallen in der EU zusammen (Dia5.7.2). Das bedeutet, dass die Konjunkturschwankungen in der EU, anders als in Deutschland, in der Regel nicht durch Außenhandelsschwankungen beeinträchtigt werden (Note5.7.3). Somit sollten die endogenen Konjunkturschwankungen in der EU klarer zu erkennen sein.


Das ist auch so. Zur Bestimmung der Wendepunkte verwenden wir die nominale Bruttowertschöpfung. Als Bruttoresidualeinkommen verwenden wir von EUROSTAT den Bruttobetriebsüberschuss plus das Bruttoselbständigen-einkommen, deren Summe von der Bruttowertschöpfung abgeleitet ist. In der EU28 sind zwischen 1993 und 2017 7 Hochpunkte und 7 Tiefpunkte der Entwicklung der nominalen Bruttowertschöpfung zu beobachten – siehe Dia5.7.3. Hier prägten die Aufteilungen der Einkommen in Arbeitnehmer-entgelte und Bruttoresidualeinkommen alle 14 Wendepunkte.


Wir betrachten hier die Hochpunkte der EU-Konjunktur, an denen die Unternehmerentscheidungen einen Abschwung der Produktionsentwicklung in Gang setzten:

  • In allen 6 Hochpunkten der Bruttowertschöpfung hatte auch die Entwicklung der Bruttoresidualeinkommen einen Hochpunkt.
  • In allen 6 Hochpunkten übertraf das Wachstum des Bruttoresidualein-kommens das Wachstum der Bruttowertschöpfung, hinter dem das Wachstum der Arbeitnehmerentgelte zurückblieb.
  • Allerdings war der Rückstand der Entwicklungen von Arbeitnehmer-entgelten gegenüber dem der Bruttoresidualeinkommen in der EU deutlich geringer als in Deutschland.
  • Bemerkenswert ist überdies: Angesichts des Fehlens störender Einflüsse des Außenhandels schwanken in der EU-28 Bruttowertschöpfung, Bruttoresidualeinkommen, Arbeitnehmerentgelte, Verfügbare Einkommen der Privaten Haushalte und Konsum der Privaten Haushalte synchron. Sie haben nahezu die gleichen konjunkturellen Hoch- und Tiefpunkte.


Schlussfolgerungen

Diese Beobachtungen der Konjunktur in Deutschland wie in der EU zeigen, dass die konjunkturellen Abschwünge der Produktion einsetzen, wenn das Wachstum der Unternehmenserträge einen Höhepunkt erreicht hat. In den Hochpunkten der Konjunktur drosseln die Unternehmungen ihr Produktionswachstum, obwohl ihre Erträge sprudeln. Was die Ursachen der konjunkturellen Wenden vom Aufschwung zum Abschwung sind, können wir auf der Grundlage von Quartalsreihen nicht feststellen: es fehlen Vor- und Nachläufe der relevanten Variablen. Wir beobachten aber auch, dass in diesen Hochpunkten das Wachstum der Arbeitnehmerentgelte am weitesten hinter dem Wachstum der Wertschöpfung zurückbleibt.


Wir können somit für Deutschland wie für die EU feststellen:

  • Die Ertragsentwicklung der Unternehmungen erklärt nicht die konjunkturellen Wendepunkte der Produktion zum Abschwung. Ganz im Gegenteil: Der konjunkturelle Abschwung der Produktion widerspricht der Ertragsentwicklung der Unternehmen.
  • Die Ursachen der Konjunkturschwankungen liegen deshalb nicht bei der Entwicklung der Gewinne.
  • Eine Ursache könnte jedoch sein, dass das Wachstum der Arbeitnehmerentgelte auf dem Hochpunkt am weitesten hinter dem Wirtschaftswachstum zurückbleibt.


Überdurchschnittliches Wachstum der Unternehmenserträge bedeutet unterdurchschnittliches Wachstum der Arbeitnehmerentgelte. Betrachten wir die Entwicklung von Quartal zu Quartal am Beispiel des Aufschwungs in Deutschland vom Tiefpunkt (T1) im 1. Quartal 1993 bis zum Hochpunkt (H2) im 4. Quartal 1994 – Änderungen gg. Vorjahr von Bruttowertschöpfung (dBWS), Bruttoresidualeinkommen (dBRE) und Arbeitnehmerentgelten (dEA):

                            dBWS        dBRE         dEA

    T1: 1993Q1    +2,7%        +0,1%        +3,8%

    1993Q2           +3,2%        +3,9%        +3,2%

    1993Q3           +2,9%        +5,7%        +0,7%

    1993Q4           +3,1%        +3,9%        +2,1%

    1994Q1           +3,5%        +5,8%        +3,7%

    1994Q2           +3,6%        +5,2%        +1,9%

    1994Q3           +4,1%        +5,3%        +2,3%

    H2: 1994Q4    +5,8%        +6,1%        +3,0%


In der Mitte des Aufschwungs, im 4. Quartal 1993, wuchsen Bruttowertschöpfung, Bruttoresidualeinkommen und Arbeitnehmerentgelte in Deutschland annähernd gleichgewichtig. Danach folgte ein Boom, in dem die Entwicklung der Arbeitnehmerentgelte deutlich hinter dem Wachstum der Bruttowertschöpfung zurückblieb. Ist das der Grund für den darauf folgenden Abschwung? Wie wäre die Konjunktur verlaufen, wenn nach diesem Quartal die Arbeitnehmerentgelte proportional am Produktionswachstum beteiligt worden wären?


Die jüngste deutsche Konjunkturentwicklung zeigt ein von diesem Muster abweichendes Bild – siehe Dia5.7.1. Nach dem letzten Hochpunkt (H8) im 1. Quartal 2014 ist die Konjunktur bis zum 3. Quartal 2017 ungewöhnlich stetig verlaufen:

  • Der letzte Hochpunkt im 1. Quartal 2014 war weniger ausgeprägt als die vorangegangenen.
  • Das durchschnittliche Wachstum der nominalen Wertschöpfung betrug in dieser Periode +3,4% und schwankte zwischen +3,0% und +5,0%.
  • Das durchschnittliche Wachstum der Arbeitnehmerentgelte betrug +3,6% und schwankte zwischen +3,3% und +4,5%.
  • Das durchschnittliche Wachstum der Bruttoresidualeinkommen betrug +3,0% und schwankte zwischen +1,1% und+5,8%.


Diese Beobachtungen sprechen für folgende Interpretation:

  • Die konjunkturellen Abschwünge werden von einer ungenügende Stützung des Produktionswachstums durch die Kaufkraft der Arbeitnehmerentgelte ausgelöst.
  • Eine gleichgewichtige Entwicklung von Arbeitnehmerentgelten, Bruttoresidualeinkommen und Bruttowertschöpfung würde zur Verstetigung des Wirtschaftswachstums beitragen.


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