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6.2. Krisen des Wirtschaftswachstums und der Staatshaushalt


Ein bedeutender Teil der Staatswissenschaften befasste sich mit den gesamtwirtschaftlichen Wirkungen von staatlichen Einnahmen und Ausgaben. Bis zur Großen Depression der 30er Jahre stand dabei die staatliche Umverteilung von Einkommen und Sozialprodukt im Vordergrund, wobei die Deckung der Ausgaben durch die Einnahmen als Prinzip des guten Wirtschaftens galt, während Staatsschulden als Mittel der Ausgabenfinanzierung bei den Regierungen durchaus beliebt waren, insbesondere als Mittel der Kriegsfinanzierung.


Die klassischen Wirtschaftswissenschaften gingen davon aus, dass das freie Spiel der Marktkräfte Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum gewährleisten würde. Sie stützten sich dabei auf die Annahme einer antizyklischen Wirtschaftsregulierung durch die Zinsen:

  • Ein starkes Wachstum lasse die Zinsen wachsen mit der Folge geringerer Investitionen, verlangsamten Wachstums und vermehrter Arbeitslosigkeit,
  • während eine schwache Investitionsnachfrage die Zinsen sinken lasse mit der Folge, dass nach einiger Zeit der konjunktureller Schwäche die Investitionen und mit ihnen Produktion und Beschäftigung wieder wachsen würden.


Als aber in der Großen Depression mit ungekannter Massenarbeitslosigkeit Regierungen auf Steuerausfälle mit Kürzungen der Staatsausgaben reagierten und dadurch die Krise noch verschärften, entstanden neue Sichtweisen und Konzepte der Steuerung des Staatsdefizits zur Stabilisierung von Wirtschaftswachstum und Beschäftigung durch den Staat: die Lehren des Keynesianismus.


Auch Keynes hat grundsätzlich auf die selbstregulierenden Kräfte des Marktes vertraut. Er stellte aber fest, dass die Marktkräfte immer wieder Krisen zulassen, die ohne ein Eingreifen des Staates nicht ertragen werden könnten. Es fehle in diesen Krisen an Nachfrage. Es seien dies Situationen, in denen auch niedrigste Zinsen die Investitionsneigung der privaten Unternehmer nicht zu stimulieren vermöchten.


Für solche Situationen empfahl Keynes zusätzliche kreditfinanzierte Staatsausgaben. Verstärkt würden deren Wirkungen durch deren hohe Multiplikatoreffekte. Diese Empfehlung zielte nicht auf eine generelle Konjunktursteuerung, sondern auf die Überwindung akuter Krisen. Keynes sprach in Bezug auf solche Krisen von einem „Problem mit dem Anlasser“ des an sich intakten Wirtschaftsmotors. Hierher kommt der missverständliche Begriff des „Ankurbelns“. Dieses Bild vermittelte die Vorstellung, dass ein einmaliger Stoß zusätzlicher Staatsausgaben oder Steuersenkungen die Wirtschaft wieder in Schwung bringen würde, so dass die daraus resultierenden Staatsschulden als unbedeutend erschienen.


Keynes„Problem mit dem Anlasser“ besteht darin, dass in bestimmten Krisensituationen die privaten Investitionen nicht positiv reagieren, obwohl die Zinsen besonders niedrig sind. „Liquiditätsfalle“ nennt Keynes Situationen, in denen die Geldbesitzer trotz niedrigster Zinsen es vorziehen, ihr Geld liquide zu halten, anstatt es in Sachanlagen zu investieren. In diesen Situationen helfen nach Keynes nur zusätzliche, durch Defizite finanzierte Staatsausgaben.


Bei Keynes handelt es sich um Ausnahmesituationen. Seit 1990 erleben wir aber weltweit ein trendartiges Sinken der Zinsen – siehe Dia7.9.5. Wie wir gesehen haben (Kap5.2.1), beeinflussen die Zinsen seither in Deutschland und fast allen EU-Staaten die privaten Investitionen (ohne Wohnungsbau) nicht. Das bedeutet: Der traditionelle Marktmechanismus, dem zufolge niedrige Zinsen über die Investitionen die Wirtschaft ankurbeln, existiert in Europa seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Folge ist, dass defizit-finanzierte Interventionen des Staates keine Ausnahmen sind, sondern häufig auftreten, und dass deshalb die Staatsschulden tendenziell wachsen.


An diesen keynesianischen Konzepten hat sich eine fortdauernde Debatte der Ökonomen entzündet, ob und wann und unter welchen Umständen eine defizit-finanzierte Fiskalpolitik dazu geeignet ist oder nicht, das Wachstum von Produktion und Beschäftigung zu fördern.


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