6.7. Auswege
Angesichts dieser Finanzierungsprobleme des Defizit-Spending suchen die Regierungen nach Auswegen. Die Dringlichkeit solcher Auswege ist einstweilen geschwunden angesichts der aktuell marginalen Zinsen für Staatsanleihen. Aber da die Staatsschulden laufend durch die Aufnahme neuer Anleihen refinanziert werden müssen, hängt die Zinslast der gegenwärtigen Schulden von den zukünftigen Zinssätzen ab, deren Entwicklung unbekannt ist.
6.7.1. Äußerst selten: Schuldentilgung (näheres EXKURS6.5)
Auch Schuldentilgungen haben konjunkturelle Wirkungen: Sie schwächen mit der gleichen Logik das Wirtschaftswachstum, mit der Kreditaufnahmen das Wirtschaftswachstum fördern.
Schuldentilgungen eines Staates in nominalen Beträgen sind selten. Deutschland hatte in den 64 Jahren zwischen 1949 und 2013 in keinem Jahr weniger Schulden als im Vorjahr. Erst seit 2014 sind Haushaltsüberschüsse zu verzeichnen. Größere Schuldensenkungen bieten sich an, wenn Staaten plötzlich zu größeren Einnahmen kommen, beispielsweise durch umfangreiche Ölfunde. Finanziert werden Schuldentilgungen in aller Regel durch Einnahmezuwächse. Während ein Drittel aller Staaten der Welt gelegentlich Schulden tilgt, wenn sich ihre Einnahmen günstig entwickeln, lassen sich Fälle einer Finanzierungen von Schuldentilgungen durch Ausgabenkürzungen weltweit nur äußerst selten finden.
Im Zusammenhang einer antizyklischen Haushaltspolitik lösen sich Kreditaufnahmen und Schuldentilgungen regelmäßig ab mit der Wirkung mittelfristiger Stabilisierung des Schuldenstandes oder der Schuldenquote.
6.7.2. Deutschland: Beendigung der Defizite durch die „Schuldenbremse“
Vor dem Hintergrund einer Standortdebatte und in der Sorge vor der Abwanderung deutscher Unternehmen ins Ausland hat die rot-grüne Koalition im Jahr 2000 eine große Steuerreform beschlossen. Dabei wurden einerseits die Eingangs- und Spitzensteuersätze der Einkommenssteuer und andererseits die Unternehmenssteuern gesenkt. Die Wirkung dieser Reform auf die Staatseinnahmen war erheblich – siehe Dia6.7.1.
Offenbar hatte auch die Regierung mit solchen Einnahmeausfällen nicht gerechnet. Die unmittelbare Folge war ein „übermäßiges Haushaltsdefizit“, das vor den Stabilitätskriterien von der EWU nicht zu rechtfertigen war. Die deutsche Defizitquote entwickelte sich:
Im Ministerrat der EU erreichte Deutschland jedoch eine Lockerung des Defizitverbotes, um Sanktionen abzuwenden. Um dieses Defizit rasch wieder abzubauen, wurden die deutschen Staatsausgaben gesenkt. Jahrelang stand die deutsche Haushaltspolitik als Folge der Steuerreform im Zeichen des „Sparens“. Zwischen 2003 und 2007 sind die Staatsausgaben von 47,8% des BIP auf 42,8% gesenkt worden, wahrend sich die Steuereinnahmen im Zeichen des Exportbooms auf 22,4% erholten.
Geblieben aber sind die Schulden. Die deutsche Schuldenquote ist als Folge dieser Steuerreform von 57,7% in 2000 auf 63,6% in 2007 angestiegen – bevor sie durch die Bekämpfung der Finanzkrise erneut auf über 80% angehoben wurde.
Die Schuldendebatte als Folge des politischen Schocks der Finanzkrise führte in Deutschland 2009 zu dem Beschluss von Bundestag und Bundesrat, Defizite künftig grundsätzlich zu verbieten. Diese deutsche „Schuldenbremse“ wurde im Grundgesetz der Bundesrepublik festgeschrieben (Note6.7.1).Sie erlaubt dem Bund nur noch ein Haushaltsdefizit von 0,35% des BIP und verbietet den Ländern Haushaltsdefizite gänzlich. Die Schuldenbremse gilt für den Bund ab 2016, für die Bundesländer ab 2020. Nur ausnahmsweise sind Defizite zugelassen
Wie sich diese Schuldenbremse auswirken wird und wie sie in der Praxis interpretiert werden wird (Note6.7.2), bleibt abzuwarten.
6.7.3. Japan: Grenzenlose Staatsverschuldung bei Minizinsen
Vom Beginn der 1960er Jahre bis zur Ölkrise 1973 erlebte Japan eine Phase des Hochwachstums. Die Ölkrisen überstand Japan ganz gut. Insgesamt waren die Siebziger Jahre eine Phase stabilen Wachstums und steigender Außenhandelsüberschüsse.
In den 80er Jahren begannen japanische Unternehmen, in den südostasiatischen Nachbarländern Produktionsstätten zu errichten.
Nach 1985 setzte überschüssiges anlagesuchendes Kapital in Japan eine Spirale in Gang, die so genannte Bubble-Economy: Aktienkurse und Immobilienpreise zogen an, in Erwartung weiterer Spekulationsgewinne wurden Immobilien beliehen und das Kapital in Aktien investiert. Der reale Wirtschaftsboom wurde durch die Spekulationen überhitzt, und eine Spekulationsblase wuchs an.
Anfang der Neunziger Jahre platzte diese Blase. Die Immobilienpreise fielen um drei Viertel, die Aktienmärkte stürzten ab, und Banken saßen auf Krediten, deren Höhe die des Wertes der hinterlegten Grundstücke und Gebäude überstieg.
Während den 90ern befand sich Japan in einer Deflation, wobei einerseits die Binnennachfrage schwach blieb, andererseits der relativ stabile Yen-Kurs eine Erholung über den Export verhinderte. Die Zentralbank Japans versuchte vergebens, durch ihre jahrelange Nullzinspolitik Investitionsanreize zu setzen.
Seit Beginn des Jahrtausends setzte die Regierung auf umfangreiche Defizit-finanzierte staatliche Investitionsprogramme. Im Durchschnitt der Jahre 1999 bis 2008 betrug das jährliche japanische Defizit 5,7% des BIP, 2010 bis 2015 7,6%. Dem entsprechend stieg die japanische Staatsverschuldung bis zur Finanzkrise auf 190% des BIP und bis 2015 auf 250%. Seitdem stagniert die Japanische Schuldenquote.
In der Zeit von 1999 bis 2015 hatte dieses radikale Defizit-Spending folgende Ergebnisse:
Diese keynesianische Fiskalpolitik kann man als erfolglos bezeichnen. Die antizyklischen Steuerungsinstrumente haben in Japan keine Wirkung gezeigt. Einer der bekanntesten zeitgenössischen Verfechter des Keynesianismus, Paul Krugman, steht diesem japanischen Phänomen ratlos gegenüber. 2008 schrieb er (Note6.7.3): „Japan erlebte praktisch ein Jahrzehnt lang eine Wachstumsrezession, wodurch es so weit unter Soll-Niveau blieb, dass es am Rande eines ganz neuen Phänomens stand: einer Wachstumsdepression“. Krugman resümierte:
Aber hat dieses Defizit-Spending Japan geschadet? – Während im Jahre 2009 Deutschland eine Schuldenquote von 74% mit einer jährlichen Zinslast von 2,7% des BIP bezahlte, kostete Japan eine dreifache Schuldenquote eine Zinslast von nur 2,0%. Das entsprach einem durchschnittlichen Zinssatz von weniger als 1%.
Wieso konnte sich Japan diese exzessive Haushaltspolitik leisten? – Japan brauchte keine internationalen Geldgeber. Anders als in europäischen Staaten werden die japanischen Staatsanleihen zu 95% von Einheimischen gehalten: japanische Banken 40%, japanische Versicherungen 20%, die übrigen Inländer 35%. Wesentlich für das Funktionieren dieser enormen Kreditaufnahme war die Fähigkeit des japanischen Staates, Banken und große institutionelle Anleger wie die Rentenversicherung unter Hintanstellung ihrer Ertragsinteressen dazu zu veranlassen, japanische Staatsanleihen zu halten.
Ich stelle zusammenfassend am Beispiel Japans fest:
6.7.4. Vereinigtes Königreich: Staatsschulden ohne Tilgung?
Vor der Finanzkrise hatte das Vereinigte Königreich stabile Finanzen: Das Defizit lag 2007 bei 2,6% und die Staatsschulden bei 41,9%. Im Gefolge der Finanzkrise stiegen die Defizite 2009 auf 10,1% und sanken in den Jahren bis 2014 nur langsam auf 5,5%. Dies führte zu einem Anstieg der Schuldenquote auf 81% im Jahre 2011 und auf 88% im Jahre 2015. Gleichwohl stieg die Zinslast 2012 nur auf 3,2% des BIP, und der Zinssatz für neue Staatsanleihen überstieg auch auf dem Höhepunkt der Finanzkrise nicht die 4%-Marke. 2016 unterschritten die britischen Renditen die 1%-Grenze. Der internationale Kapitalmarkt hat offenbar volles Vertrauen in britische Staatsanleihen.
Die niedrigen Zinsen veranlassten die britische Finanzpolitik dazu, nach Wegen zu suchen, diese durch möglichst lange Laufzeiten dauerhaft zu sichern. Im März 2012 kündigte der britische Schatzkanzler in seiner Haushaltsrede öffentliche Anleihen an, die eine Laufzeit von 100 Jahren haben würden oder sogar eine unendliche Laufzeit. Mit der hundertjährigen Anleihe wolle er dauerhaft von den historisch niedrigen Zinsen profitieren, zu denen sein Land momentan Geld leihen könne.
Und tatsächlich hat die britische Regierung in den letzten Jahren Anleihen mit einer 50-jährigen Laufzeit aufgelegt, zB. 2012 die 3/8%-Index-linkedTreasuryGilt bis 2062, dh. eine an den Preisindex gekoppelte Anleihe mit einer inflationsbereinigten Verzinsung von 0,375%. Diese 50jährige Indexanleihe in Höhe von 4 Mrd. Pfund wurde am 29.5.2012 ausgegeben und stieß binnen 45 Minuten auf eine Rekordnachfrage von 11 Mrd. Pfund.
Die Briten sind nicht die einzigen, die an einer Laufzeitverlängerung arbeiten. Schon 2011 schlugen die großen US-Banken der Regierung in Washington vor, in das Ultralanglaufsegment einzusteigen. Österreich hat ein Gesetz geändert, um 2013 Papiere mit einer Laufzeit von 70 Jahren ausgeben zu können. Österreich und auch Frankreich haben inzwischen 50-jährige Anleihen ausgegeben.
Mexiko hat 2010 den Schritt darüber hinaus gewagt und 100-jährige Papiere im Volumen von 1 Mrd. Dollar begeben. Und 2017 gab Argentinien eine 100-järige Anleihe mit einem Volumen von 2,7 Mrd. Dollar aus. Der Markt reagierte äußerst positiv auf diese Angebote. Allerdings ist der Zinssatz von 7,9% ein Angebot, das die diversen argentinischen Staatsbankrotte vergessen lässt. Dieser Zinssatz entsprach dem aktuellen Marktzins für argentinischen Anleihen, den Argentinien langfristig zu nutzen suchte.