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7.9. Geldpolitik


Der EU-Vertrag formuliert den Auftrag des Europäischen Systems der Zentralbanken so (Artikel 127(1) AEUV):

  • Das vorrangige Ziel des Europäischen Systems der Zentralbanken ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten. Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union, um zur Verwirklichung der in Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union festgelegten Ziele der Union beizutragen.“


Die Geldpolitik der EZB konzentriert sich entsprechend ihrem Auftrag auf die Gewährleistung der Preisstabilität. Ihre primären Zielgrößen sind dabei die Geldmarktzinsen in der EWU, die sie mit ihrer Zinspolitik und ihrer Offenmarktpolitik verfolgt. Wie wir gesehen haben, hängen die Inflationseinflüsse, die von der Güterproduktion ausgehen, von der Stärke des mittelfristigen Wirtschaftswachstums ab (Kap.5.5). Dieses Wachstum kann die EZB durch Zinserhöhungen so drosseln, dass diese Inflationseinflüsse im Sinne ihres Stabilitätsziels begrenzt werden. Die Folge einer solchen Begrenzung der Inflationsentwicklung ist notwendigerweise die Begrenzung des Wachstums von Produktion und Beschäftigung.



7.9.1. Die geldpolitische Instrumente

Die EZB beabsichtigt mit ihrer Geldpolitik, den Preis und die Verfügbarkeit von Geld (Kredit) in der Wirtschaft zu beeinflussen. Ihr Ziel ist es, ihre geldpolitischen Einflüsse so zu steuern, dass die Inflationsrate sich nahe dem Ziel 2% hält.


Die Grundlage der Geldpolitik der EZB bildet eine Analyse der Zusammenhänge zwischen den Entwicklungen der Realwirtschaft und des Geldmarktes und den Interventionen der Zentralbank. Sie beobachtet insbesondere das Wirtschaftswachstum, die Auslastung der Produktionskapazitäten, die Entwicklungen der Lohnkosten und der Arbeitslosigkeit (Dia7.9.1). Daraus leitet sie ihre geldpolitische Strategie ab. Die historischen Entwicklungen der internationalen Ökonomie zwingen die EZB zur ständigen Überprüfung ihrer Vorstellungen und ihrer Strategie. Dies führt sie und ihre Beobachter immer wieder an den Rand des Unbekannten. Besonders für diejenigen, die Geldvermögen besitzen und dieses zukunftssicher betreut wissen wollen, ist die Politik der EZB ein Kristallisationspunkt ständiger Besorgnisse.


Die EZB geht allerdings davon aus, dass sie in Zeiten einer normalen wirtschaftlichen Entwicklung die allgemeinen Finanzierungsbedingungen und letztendlich die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und die Inflation durch Festlegung ihrer kurzfristigen Leitzinsen tatsächlich steuert. Werden die Leitzinsen verändert, so die Aussage der EZB, dann wirkt sich dies auf die Höhe der Zinssätze aus, zu denen Geschäftsbanken ihren Kunden Kredite gewähren. Die EZB betont aber regelmäßig, dass ihre Geldpolitik nicht in der Lage ist, monetäre Krisen zu bewältigen, die durch strukturelle Verwerfungen verursacht werden.


Um Zinsen und Liquidität der Banken zu beeinflussen verwendet die EZB folgende Instrumente:

  • Sie variiert die Zinssätze, zu denen Geschäftsbanken von ihr Geld leihen können, das die EZB selbst schafft: Refinanzierungsgeschäfte. Der Hauptrefinanzierungssatz, dh. Zinssatz für Hauptrefinanzierungsgeschäfte, ist der wichtigste Zinssatz der EZB.
  • Sie variiert den Einlagesatz, den Geschäftsbanken von der EZB bezahlt bekommen, wenn sie Geld bei ihr anlegen: Einlagefaszilitäten. Bis zur Finanzkrise haben die Geschäftsbanken von ihrem Recht, bei der EZB Geld anzulegen und dafür Zinsen zu erhalten, keinen Gebrauch gemacht.
  • Sie könnte die Pflicht der Banken zur Hinterlegung von Mindestreserven variieren, was sie aber nicht tut.
  • In ihrer Offenmarktpolitik kauft und verkauft sie Wertpapiere, nicht zuletzt Staatsanleihen, um dem Markt auf direktem Weg Geld zuzuführen oder zu entziehen. Aber sie gewährt Staaten grundsätzlich keinen Kredit. Wenn Staaten neue Kredite aufnehmen wollen, müssen sie dies auf dem freien Kapitalmarkt tun, der mit dem Zinssatz ihre individuelle Bonität bewertet.


Ein Vergleich der Zinsen in Deutschland (Dia7.9.2 und Dia7.9.3) zu zwei verschiedenen Zeitpunkten illustriert die Zinssätze der EZB im Umfeld der Kreditzinsen: September 2008, der konjunkturelle Höhepunkt vor der Finanzkrise, und Januar 2010, der Tiefpunkt inmitten der Finanzkrise:

                                                                                Sept. 2008        Jan. 2010.

    Kreditzinsen

        Überziehungszinsen Priv. Haushalte        11,98%            10,33%

        Hypothekenzinsen Priv. Haushalte            5,45%               4,08%

        Überziehungszinsen Unternehmungen     7,26%               4,70%

        Kreditzinsen Unternehmungen 

        bis 1. Mio.€                                                      6,46%               3,19%

    Geldmarktzinsen

        EURIBOR (3-Monatsgeld)                            5,0%                 0,7%

        EONIDA (Tagesgeld)                                    4,3%                 0,3%

    Zentralbankzinsen

        Basisgeld Bundesbank                                  3,19%               0,12%

        Hauptrefinanzierungssatz EZB                   4,25%               1,00%

        Einlagesatz EZB                                             3,25%               0,25%


Im Gefolge der Finanzkrise haben sich die Leitzinsen der EZB jedoch einer effektiven Untergrenze genähert – dem Punkt, an dem eine weitere Senkung der Leitzinsen keine oder nur geringe Wirkung erzielen würde. Aus diesem Grund hat die EZB Sondermaßnahmen ergriffen, um den Risiken einer zu lang anhaltenden Phase niedriger Inflation zu begegnen (Deflation) und die Inflation mittelfristig wieder auf ein Niveau von „unter, aber nahe 2%“ anzuheben: den Ankauf von gesicherten Vermögenstiteln auf dem offenen Markt.


Im Rahmen ihres erweiterten Programms zum Ankauf von Vermögenswerten (Asset Purchase Programs) erwarb die EZB zwischen 2013 und 2018 verschiedene Aktiva von guter Bonität, darunter Staatsanleihen, von supranationalen europäischen Institutionen begebene Wertpapiere, Unternehmensanleihen, forderungsunterlegte Wertpapiere und gedeckte Schuldverschreibungen. Mit diesem Ankauf von Vermögenswerten suchte sie die allgemeinen Finanzierungsbedingungen und damit letztendlich das Wirtschaftswachstum und die Inflation positiv zu beeinflussen (EXKURS7.4).


7.9.2. Der Einfluss der EZB auf Inflation und Wachstum

Das explizite Ziel, das sie EZB mit ihrer Zinspolitik verfolgt, ist es, die Inflationsrate in der Nähe der von ihr definierten Preisstabilität von 2% zu halten. Das bewirkt sie nicht direkt, sondern über ihren Einfluss auf die Wachstumsrate des BIP. – Das lässt sich empirisch belegen.


Unsere empirischen Tests (2000-14, Quartalszahlen) zeigen zunächst sehr deutlich, dass sich die EZB bei ihren Zinsentscheidungen vorrangig an der Wachstumsrate des BIP orientiert, die ihrerseits, wie wir gesehen haben, die Inflationsrate beeinflusst (Kap.5.5). Der positive Einfluss der BIP-Wachstumsrate in der EWU auf Zinsentscheidung der EZB ist hoch signifikant und dominant (Z.EA.3.00-14), während der Einfluss der Kerninflationsrate auf die Zinsentscheidungen der EZB nur schwach signifikant und gering ist (Z.EA.4.00-14). Die EZB zielt nicht darauf, die Inflation zu bekämpfen, sondern sie schon im Vorfeld zu verhindern.


Auch der Einfluss der Zinsentscheidungen der EZB auf das Wirtschaftswachstum, dh. der umgekehrte, negative Einfluss von Veränderungen des Hauptrefinanzierungssatzes durch die EZB auf die realen Wachstumsraten des BIP, ist empirisch belegt. Um diesen Einfluss messbar zu machen, muss zuerst der positive Einfluss der von der EZB beobachteten Wachstumsrate auf ihre Entscheidungen selbst herausgefiltert werden. Wir prüfen für Deutschland (2000-2014, Quartalsdaten) die Zusammenhänge zwischen den Veränderungen der Zinssätze der EZB und den Veränderungen des preisbereinigten BIP (Z.DE.1.00-14):

  • a) Der um 5 Quartale verzögerte negative Einfluss des Hauptrefinanzierungssatzes der EZB auf das BIP-Wachstum ist signifikant, aber schwach,
  • b) dem aber ein hoch signifikanter und dominanter positiver Einfluss des Wachstums auf die Zinsbeschlüsse der EZB um ein Quartal vorläuft.


Für die Gesamtheit der Europäischen Währungsunion (2000-2014, Quartalsdaten) finden sich ähnliche Ergebnisse (Z.EA.1.00-14):

  • a) Der um 5 Quartale verzögerte negative Einfluss des Hauptrefinanzierungs-satzes der EZB auf das BIP-Wachstum ist signifikant, aber schwach
  • b) dem aber ein hoch signifikanter und hoch dominanter positiver Einfluss des Wachstums auf die Zinsbeschlüsse der EZB um ein Quartal vorläuft.


Für 19 einzelne Mitgliedsstaaten der EWU ergibt sich:

Bei 12 Staaten ist ein ähnlich schwacher Einfluss der Zinsentscheidungen der EZB auf die nationalen Wachstumsraten feststellbar, der bei 11 Staaten signifikant, bei einem schwach signifikant ist, während bei 7 Staaten kein signifikanter Einfluss besteht.


Diese Tests belegen einerseits, dass sich die Inflationskontrolle der EZB faktisch an der Wachstumsrate des BIP orientiert, die ihrerseits die Inflationsrate positiv beeinflusst. Dem gegenüber lässt sich in dem Zeitraum 2000 bis 2014 nur ein schwacher negativer Einfluss der Zinsentscheidungen der EZB auf die Wachstumsrate des BIP feststellen. Allerdings hat die EZB das Wirtschaftswachstum nur in wenigen Jahren – 1999 und 2000 sowie 2006 und 2007 – durch Zinserhöhungen zu bremsen versucht.


Der direkte negative Einfluss des Hauptrefinanzierungssatzes der EZB auf die Inflationsrate in der Währungsunion ist dem gegenüber gering (Z.EA.8.00-14):

  • a) Mit einer Verzögerung von 24 Monaten zeigt sich ein nicht signifíkanter, schwacher Einfluss.


Wir stellen also fest:

  • Die EZB verändert ihre Zinssätze mit dem Ziel, Abweichungen der Inflationsrate von ihrem Stabilitätsziel 2% entgegenzuwirken, nach oben wie nach unten.
  • Sie orientiert sich dabei vorrangig an den tatsächlichen Veränderungen des Wirtschaftswachstums.
  • Die Veränderungen der EZB-Zinssätze haben keinen direkten Einfluss auf die Inflationsrate und einen relativ schwachen Einfluss auf das Wirtschaftswachstum. Mit einer rigorosen Zinserhöhung könnten jedoch in Boomzeiten das Wirtschaftswachstum und damit die Zunahme der Inflation gebremst werden.
  • Diese tatsächlichen Zusammenhänge zwischen Zentralbankzinsen und Realwirtschaft lassen nur eine sehr grobe Ansteuerung der geldpolitischen Ziele durch die EZB zu.


7.9.3. Der Zinsverfall und Einfluss der EZB auf die Marktzinsen

In der Öffentlichkeit herrscht der Eindruck vor, die Zentralbank bestimme das allgemeine Niveau der Marktzinsen, und insbesondre EZB-Chef Draghi wird in Deutschland vielfach für die niedrigen Zinsen verantwortlich gemacht. Dem widersprechen Beobachtungen, die im Folgenden dargestellt werden.


Dem widerspricht ganz unmittelbar die Beobachtung der Wirkungen der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank in den Jahren 2011 und 2012. Mit Beginn der Finanzkrise, zwischen Oktober 2008 und April 2009, hatte die EZB ihre Zinssätze rigoros gesenkt, den Hauptrefinanzierungssatz für Kredite an Banken von 4,25% auf 1%. Als aber Anfang 2011 die Marktzinsen Aufwärtstendenzen signalisierten, erhöhte die EZB ab April 2011 ihre Zinssätze in 2 Schritten um 0,5%-Punkte. Damit wollte sie eine allgemeine Zinswende nach oben einleiten.


Aber das ist ihr nicht gelungen. Trotz erhöhter EZB-Zinsen sanken die Marktrenditen, und der Tagesgeldsatz fiel unter 1%. Angesichts mangelnder Geldnachfrage der Wirtschaft und einem Einlagezinssatz der EZB von 0,75% verlagerten die Banken zunehmend überschüssiges Geld zur Zentralbank. Die Bankeinlagen bei der EZB (Einlagefaszilitäten) stiegen von Juni 2011 bis Juli 2012

  • in Deutschland von 8 Mrd.€ (0,3% BIP) auf 293 Mrd.€ (10,6% BIP),
  • in der gesamten EWU von 18 Mrd.€ (0,2% BIP) auf 770 Mrd.€ (7,9% BIP).

Mangels privater Zinserträge ließen sich die Banken auf diesem Weg Zinsen von der EZB bezahlen. Das zwang die EZB, ihre Zinssätze wieder zu senken. Erst als ihr Einlagezinssatz im Juli 2012 auf Null gesetzt worden war, begannen diese Bankeinlagen aus der EZB wieder abzufließen. Hier wird deutlich, dass Zinssenkungen der EZB in Zeiten hoher Liquidität vom Markt erzwungen werden, dh. von der Masse der überschießenden Liquiditätsreserven der Banken. Diese Zinssenkung war keine Aktion der EZB, sondern eine Reaktion gegen die Flut der Geldeinlagen von Banken.


Seit 2013 ist eine Besorgnis erregende Entwicklung zu beobachten: Im Bankensystem Deutschlands wuchs der Anteil der liquiden Einlagen (Laufzeit bis zu 2 Jahre) von Nichtbanken am gesamten Geldvermögen auf Kosten der nicht-liquiden Einlagen von Ende 2011 bis Ende 2017 stetig an – siehe Dia7.9.4 – (in % des Geldvermögens):

                                             2011                 2017                Veränderung

liquide Einlagen                7,2%                 8,7%               +1,5%-Punkte

nicht-liquide Einlage        5,6%                 3,7%               -2,1%-Punkte


Was ist die Ursache dieser Liquiditätsentwicklung? – Seit 2011 sind die langfristigen Marktzinsen von 4% auf unter 1% gefallen. Geldbesitzer scheuten sich zunehmend, ihr Geld bei so niedrigen Zinsen längerfristig festzulegen. Sie zogen es vor, ihr Geld rasch verfügbar zu halten: „Liquiditätsvorliebe“.


Das führt uns zu der Frage: Warum sind die Zinsen so niedrig? Warum steigen sie nicht wieder?


Ein eindrucksvolles Bild liefert die Beobachtung der historischen Zinsentwicklungen in Deutschland, in der EWU und in den USA, die sich als langfristige Abwärtstrends der Anlagezinsen darstellen, die gegen Null streben – siehe Dia7.9.5. Hier die langfristige Entwicklung der Zinsen von Staatsanleihen (im Jahresdurchschnitt):

                1981            1990            2000            2007            2015

    DE       10,13%         8,71%         5,26%          4,12%         0,50%

    USA     13,91%        8,55%         6,03%          4,63%         2,14%.


Einen Teil dieser Entwicklung könnte man durch die langfristig fallenden Inflationsraten erklären. Aber in Deutschland seit 1990 und in den USA seit 2000 fallen auch die preisbereinigten langfristigen Kreditzinsen. Zieht man von den Zinssätzen die Inflationsraten ab, so erhält man die realen langfristigen Zinssätze:

                1981            1990             2000            2007            2015

    DE         4,33%         6,21%          4,33%          2,32%       -0,70%

    USA      3,41%          3,55%          3,63%         2,33%         0,34%.


Es handelt sich also um einen Jahrzehnte langen weltweiten Trend der fallenden Zinsen.


Dieser Trend fallender Marktzinsen wird von den Zinssätzen der Zentralbanken begleitet. Die Zentralbanken bemühen sich mit ihrer Geldpolitik, den Marktzins zu beeinflussen. Die Diagramme für die USA 1990-2016 – Dia7.9.7, für Deutschland 1991-1998 – Dia7.9.6 und für die EWU 2001-2016 – Dia7.9.8 veranschaulichen diese Geldpolitiken. Es stellt sich die Frage, ob diese Geldpolitiken den Fall der Marktzinsen/Renditen verursacht haben. Insbesondere die weltweit führende amerikanische Geldpolitik käme dafür in Betracht.


Zur Klärung dieser Frage testen wir die Zusammenhänge von langfristigen Marktzinsen und Zentralbankzinsen. Um Ursache und Wirkung zu bestimmen, prüfen wir anhand von Monatsdaten den Vorlauf bzw. Nachlauf der Zeitreihen. Unsere Befunde lauten:

  • In den USA folgten im Durchschnitt der Jahre 1990-2016 die Zinssätze der FED den langfristigen Marktzinsen mit einer Verzögerung von einem Monat (signifikant = 0,012) (Z.US.1.90-16). 
  • In Deutschland folgte im Durchschnitt der Jahre 1991-1998 der Diskontsatz der Bundesbank den langfristigen Marktzinsen mit einer Verzögerung von sieben Monaten (schwach signifikant = 0,077) (Z.DE.3.91-98).
  • In der EWU folgte im Durchschnitt der Jahre 2001-16 der Hauptfinanzierungssatz der EZB den langfristigen Marktzinsen mit einer Verzögerung von einem Monat (signifikant = 0,011) (Z.EA.7.01-16).

Die Zinssätze der Zentralbanken folgen also den langfristigen Marktzinsen. Sie sind nicht Ursache der fallenden Marktzinsen.


In der Sicht der klassischen Wirtschaftstheorie war diese Zeit sinkender Zinsen durch eine hohe Liquiditätspräferenz der Besitzer von Geldvermögen charakterisiert. Sie sei Ausdruck einer großen Unsicherheit bezüglich der Chancen längerfristiger Geldanlagen. Diese Unsicherheit des Geldangebots reicht aber zur Erklärung der dauerhaften Liquiditätsschwemme nicht aus. Warum steigen dann nicht die Zinsen? – Offensichtlich gibt es keine ausreichende Geldnachfrage: Die im Verhältnis zum BIP übermäßig wachsenden Geldvermögen finden keine ausreichende Nachfrage von Kreditnehmern.


Die klassischen Theorien unterstellen, dass niedrige Zinsen zu steigenden Investitionen führen. Deshalb interpretieren sie diese „Liquiditätsfalle“ als besonderen Umständen geschuldeten Sonderfall, und Keynes sprach von einem Problem der Wirtschaft mit dem „Anlasser“, der durch einen fiskalischen Nachfragestoß behoben werden könnte. Tatsächlich reagieren die realen Investitionen, wie wir gesehen haben, wenigsten seit 1991 nicht auf Zinsänderungen. Tatsächlich berührte diese Liquiditätsschwemme die Investitionsneigung der Unternehmen nicht: Weder stärkten die niedrigen Zinsen die realwirtschaftliche Investitionsneigung erkennbar, noch lähmte die Liquiditätspräferenz der Vermögensbesitzer die realwirtschaftliche Investitionsneigung. Die Zinsen sanken trendartig – unberührt von der realwirtschaftlichen Entwicklung.


Bemerkenswert ist auch, dass dieser Niedergang der Zinsen in Deutschland nach 1998, von 5% auf 0%, keinen Einfluss auf die Sparneigung der Privaten Haushalte gehabt hat. Testen wir die Veränderungen der privaten Sparquote in Abhängigkeit von den Veränderungen der Umlaufrendite öffentlicher Anleihen, so finden wir für Deutschland folgende Ergebnisse:

  • 1991-1998: schwach signifikanter, mittlerer Einfluss der Umlaufrendite (Z.DE.5.91-98);
  • 1999-2016: nicht signifikanter, minimaler Einfluss der Umlaufrendite (Z.DE.6.99-16);

Die fallenden Renditen haben in Deutschland wenigstens seit 1999 nur einen marginalen Einfluss auf die Sparneigung der Privaten Haushalte gehabt.


Diese Befunde drücken aus, dass sich die Zinspolitik der Zentralbanken an der Entwicklung des tatsächlichen Marktzinses orientiert. Der fallende Zinstrend gegen Null ist nicht das Werk der Zentralbanken. Die fallenden Renditen haben auch die Sparneigung nicht geschwächt. Und sie sind nicht von den Entwicklungen der Realwirtschaft beeinflusst. Das bedeutet: Der Zinsverfall ist ein Produkt des Geldmarkes.


Das Geldangebot ist in den letzten 15 Jahren stärker gewachsen als die Geldnachfrage. Das bestätigen sehr unterschiedliche Quellen. Zwischen 1999 und 2016 bzw. 2015 sind weltweit die Geldeinlagen bei Banken deutlich stärker gewachsen als das BIP, das die produktive Geldnachfrage repräsentiert (BIP-Wachstum = 1,00):

                                               Quelle                                        99-15       99-16

    Private Bankeinlagen     Bundesbank      Deutschland                   1,15

                                                                           EWU                                1,43

    Bankeinlagen                   Worldbank        USA                 1,37

                                                                           Welt                 1,56

    Geldmenge M3                Bundesbank      Deutschland                    1,31

                                                                            EWU                                1,47

    Erweiterte Geldmenge    Worldbank        USA                 1,34

                                                                            Welt                 1,14


Weltweit sind von 1995 bis 2015 die Bankguthaben von 32% auf 50% des weltweiten BIP gestiegen, wie dieses Diagramm zeigt: Dia7.9.9. Sie sind damit wesentlich stärker gestiegen als das BIP, von dem die Investitionsnachfrage abhängt. Dieses Ungleichgewicht von Geldangebot und Geldnachfrage hat die Zinsen trendartig sinken lassen – gegen Null.


In Deutschland haben wir beobachtet, dass das überproportionale Wachstum der Ersparnisse auf die hohe Sparquote der hohen Einkommen zurückzuführen ist (Kap.4.8). Das wachsende Geldangebot resultiert aus weltweiten „Ersparnissen“. Die Entwicklung dieser Ersparnisse der Vermögenden reagiert nicht auf den Zinssatz und somit nicht auf die Geldnachfrage. Die weltweiten Zinsen können erst wieder steigen, wenn die Entwicklungen von Geldangebot und Geldnachfrage ausgeglichen werden. Bis dahin wird es bei den Niedrigzinsen bleiben.


Schlussfolgerungen:

  • Insgesamt bestimmen Geldangebot und Geldnachfrage die Zinshöhe.
  • Die Zentralbank versucht mit ihrer Geldpolitik, orientiert an ihrem Ziel der Preisstabilität, diese Zinsen zu erhöhen oder zu verringern. Ihr Einfluss ist dabei begrenzt.
  • Das Geldangebot der Ersparnisse reagiert nicht auf Zinsänderungen.
  • Es ist ein weltweites Überangebot von wachsenden anlagesuchenden Geldvermögen, das die Zinsen langfristig gegen Null sinken lässt.
  • Solange sich an diesem Überangebot nichts ändert, ist keine Beendigung der Niedrigzinsphase zu erwarten.


7.9.4. Gewinner und Verlierer des Zinsverfalls

Dieser auf übermäßiges Sparen zurückzuführende Zinsverfall hat einschneidende strukturelle Folgen, die noch nicht abzusehen sind. Die Jagd nach rentablen Kapitalanlagen verschärft sich. Der Run auf Immobilien kann Blasen entstehen lassen, deren Platzen neue finanzielle Beben auslösen kann. Insbesondere dort, wo umfangreiche Altersrücklagen sich auf tragfähige Renditen stützen, werden wachsende Besorgnisse politisch relevant. Lebensversichrungen geraten zunehmend in finanzielle Schwierigkeiten. Finanzpolitische Alarmsignale häufen sich.


Der Zinsverfall hat nicht zuletzt Verteilungswirkungen. Wenn die Zinsen sinken, gewinnen die Kreditnehmer und verlieren die Kreditgeber bzw. Sparer. Das erklärt die Positionen in der aktuellen Diskussion über die Zinsentwicklung.


Während der Periode von 2002 bis 2016 veränderten sich die Zinssalden aus Zins-Erträgen minus Zins-Aufwendungen in Deutschland (DE) (Dia7.9.10) und in der EU28 (Dia7.9.11) wie folgt – in % des BIP:

                                                                                          DE                EU28

    Fin. Kapitalgesellschaften            Zinssaldo         +0,3%            -1,1%

    Nichtfin. Kapitalgesellschaften   Zinssaldo         +1,4%           +0,9%

    Staat                                                 Zinssaldo         +1,6%            +0,9%

    Private Haushalte                                erhaltene Zinsen    -2,4%        -1,9%

                                                                    bezahlte Zinsen     -2,2%        -1,4%

                                                               Zinssaldo        +0,2%            -0,5%

    übrige Welt                                      Zinssaldo         -3,5%            -0,2%


Die Diagramme und die Tabelle zeigen, wie sich die Salden von Zinserträgen minus Zinszahlungen der einzelnen Wirtschaftssektoren in % des BIP entwickeln. Darin kommen einerseits die fallenden Zinssätze zum Ausdruck, andererseits die veränderten Kreditvolumen. Beides lässt sich nicht trennen. Aber erkennbar werden folgende Entwicklungen:

  • Finanzielle Kapitalgesellschaften (Banken): In Deutschland hält sich der positive Zinssaldo zu Lasten der übrigen Welt, insb. zu Lasten der EU. In der EU28 ist dagegen eine Minderung der Zinserträge der Banken um ein Drittel festzustellen.
  • Nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften: Sie profitieren naturgemäß von der Zinssenkung, wobei in Deutschland eine Verringerung der Fremdfinan-zierung hinzu kommt.
  • Staat: Auch er profitiert von den Zinssenkungen, wobei in Deutschland eine Verringerung der Schuldenquote hinzu kommt.
  • Private Haushalte: In Deutschland halten sich die Entwicklungen von Zinserträgen und Zinskosten die Waage, weil sich die ausländischen Zinserträge positiv entwickelt haben. In der EU dagegen sind die Zinserträge deutlich stärker gesunken als die Zinskosten. Hier sind die Privaten Haushalte die Verlierer der Zinsentwicklung.
  • Übrige Welt: Die Unterschiede zwischen den Entwicklungen Deutschlands und der EU drücken den EU-Anteil der deutschen Entwicklung aus: die deutschen Krediterträge aus der EU sind deutlich gewachsen. In der EU dagegen veränderte sich der geringe Zinssaldo mit der übrigen Welt kaum.


Bemerkenswert ist schließlich ein Vergleich zwischen der Entwicklung der Renditen, die wir oben betrachtet haben (Kap.7.3), und dem Trend der fallenden Zinsen. Ein Diagramm veranschaulicht das Resultat einer wachsenden Differenz, die sich als Rendite fremdfinanzierter Anlagen darstellt – durchschnittlicher tatsächlicher Ertrag minus Zinskosten - siehe Dia7.9.12):

  • Ab 2009, also nach der Finanzkrise, sanken die Zinsen für Investitionskredite stärker als die Renditen der Eigentümer: Bei sinkenden Zinsen wurde es profitabler, mit fremdem Geld zu investieren.


Zusammenfassend lässt sich feststellen:

  • In der EU zahlen die Sparer den Preis dieses Zinsverfalls, der selbst eine Folge übermäßigen Sparens ist.
  • Wie wir für Deutschland gesehen haben (Kap4.8), ist die private Sparquote desto höher, je größer die Einkommen sind. Somit gehören zu den Treibern der Zinssenkungen die Bezieher höherer Einkommen, während die Sparer, die sich auf Zinsanlagen stützen, die Verlierer sind.


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